Heimat

Abrahams Fußstapfen

von Rabbi Carl M. Perkins

Es war einmal, berichtet die Tora, ein Mann namens Abraham. Über sein Vorleben wissen wir sehr wenig. Die Bibel sagt nicht viel mehr darüber, als daß er ein Sohn des Terach war und in der Stadt Ur geboren wurde und aufwuchs. Ur lag am Rand des Persischen Golfs, zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat. Später zog die Familie stromaufwärts nach Haran.
Abrahams Vater fertigte Götzenbilder. So kam Abraham allein zu der Erkenntnis, daß die Götzenbilder in Wirklichkeit nicht göttlich waren. Eines Tages, als sein Vater außer Haus war, zertrümmerte Abraham alle Götzenbilder, außer einem – dem kleinsten – und legte dann den Hammer in die Hand dieses Götzen. Als sein Vater nach Hause kam, war er natürlich schockiert und bestürzt, als er alle Figuren zerstört vorfand, woraufhin Abraham sagte: »Dieses Götzenbild hier war es. Es hat alle anderen zerschlagen.« Als sein Vater ihm Vorhaltungen machte und sagte, daß das unmöglich sei, antwortete Abraham, »Wie kannst du solche Götzen anbeten? Wenn sie nicht einmal die Macht besitzen, einen Hammer in die Hand zu nehmen, wie können sie die Macht besitzen, irgendetwas anderes zu tun?«
Diesem Midrasch zufolge liegt der Hauptunterschied zwischen Abraham und der Welt, die er hinter sich ließ, in der Theologie. Er war Monotheist. Alle anderen waren Heiden. Tausende Jahre lang gab es keine Möglichkeit, daß irgendjemand etwas anders wissen konnte, denn die Welt, die Abraham verlassen hatte, war seit langem untergegangen. In der Bibel heißt es einfach, Gott habe eines Tages zu Abraham gesagt: »Lech Lecha« – »Gehe aus Deinem Land.« Abraham tat es. Er begab sich mit seiner Frau und seinem Neffen auf eine Reise.
In der modernen Zeit allerdings entdeckten Archäologen die Überreste von Sumer, jener Zivilisation, die in Mesopotamien, der Region zwischen Tigris und
Euphrat, zu Abrahams Zeit in Blüte stand. Zahlreiche Lehmtafeln mit den unterschiedlichsten Informationen über das Land und seine Kultur wurden gefunden und übersetzt. So erfuhren wir im Verlauf der Zeit immer mehr über die Gesellschaft, der Abraham den Rücken kehrte.
Wie soll man sich die sumerische Zivilisation vorstellen? Sie holten damals kein Öl aus der Erde, doch es gab vor dreitausend Jahren in Mesopotamien eine wohlhabende und hochzivilisierte Gesellschaft. Die technische Entwicklung befand sich bereits auf einem verblüffenden Stand. Ärzte führten Augenoperationen aus. Töpfer hatten den Brennofen erfunden. Sie verfügten über ein Justizsystem und ein Bankwesen. Sie besaßen sogar fließendes Wasser. Das ist die Welt, die Abraham verließ.
Ein Teil dieses Wissens findet Eingang in ein kürzlich veröffentlichtes Buch mit dem Titel The Gifts of the Jews: How a Tribe of Desert Nomads Changed the Way Everyone Thinks and Feels, von Thomas Cahill. Auch er beschreibt diese überaus erstaunliche Tatsache: Daß ein Mann, der in der zivilisiertesten Gegend der Welt großgeworden war, diese verläßt, um sich in die Wildnis zu begeben. Warum hat er es getan? Was könnte ihm das Gefühl gegeben haben, daß es das war, was er tun mußte? War es der Streit mit seinem Vater über die Götzenbilder?
Laut Cahill war Sumer nicht nur wohlhabend, sondern auch materialistisch, darüber hinaus von »starkem Konkurrenzdenken« geprägt. Es war eine Gesellschaft »voller Streitsucht und Aggression, in der ein ›guter‹ Mann – das Ideal – jemand war, der extrem ehrgeizig war, beherrscht von der Begierde nach weltlichem Prestige, nach Sieg und Erfolg. Und es war eine Gesellschaft, die die Armut verachtete.« Vielleicht hat dieses – zugegebenermaßen vielleicht übertriebene – Porträt der sumerischen Gesellschaft etwas mit Abrahams Entscheidung zu tun. Vielleicht waren es die Werte Sumers, eher noch als die Theologie, die den Ansporn gaben zu Abrahams Reise.
An jenen entscheidenden Augenblick zu denken, in dem Abraham die zivilisierte Welt seiner Zeit hinter sich ließ, kann für uns heute Lebenden äußerst beunruhigend sein. Schließlich könnte man die säkulare Kultur unserer Zeit mit den gleichen Worten schildern, mit denen Sumer beschrieben wurden. Auch unsere Gesellschaft belohnt den Ehrgeiz. Auch in unserer Gesellschaft herrschen zwischen Reich und Arm riesige Ungleichheiten. Darin liegt für uns alle eine große Herausforderung. Denn: Wie weit sind wir echte Nachfahren Abrahams? Wie weit treten wir in seine Fußstapfen? Und wie weit leben wir in der Welt, der er den Rücken kehrte, in der Welt, die er zurückwies? Das sind unbequeme Fragen, denn, offen gesagt, tun wir beides. Wir wollen in Sumer leben, gleichzeitig sind wir als Juden verpflichtet, zu unserer eigenen Reise aufzubrechen. Wir entscheiden uns immer wieder dafür, diese Welt, in der wir leben und wo wir uns wohl fühlen, zu verlassen.
Die Lehre des »Lech Lecha« besteht darin, daß wir die Stadt gewissermaßen verlassen müssen, wenn wir nach spiritueller und moralischer Kraft suchen. In Sumer werden wir nicht finden, wonach wir suchen. Um die Werte zu finden, die uns Halt geben, müssen wir außerhalb unserer Kultur suchen und unsere eigene Tradition und ihre Erkenntnisquellen ausloten.
Die Reise, die Abraham unternahm, ist unser Vorbild. Auf seinem Weg schufen er und seine Nachfahren eine moralische Umgebung, die sehr verschieden war von der Welt, die sie verlassen hatten.
Diese Umgebung ist eine, in der wir Verantwortung nicht nur für uns selbst, sondern auch für einander tragen. Eine Umgebung, die es mißbilligt, wenn man tatenlos zusieht, wenn ein anderer leidet. Eine Umgebung, die von uns fordert, daß wir jeden Menschen, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, mit Achtung behandeln.
Anders als Abraham aber müssen wir nicht im Wortsinne fortgehen, um unsere jüdische Mission zu erfüllen. Wir müssen kein Flugzeug besteigen und dieses Land verlassen. Andererseits macht das unsere Aufgabe komplizierter: ein jüdisches Leben zu führen, eine jüdische Familie aufzubauen inmitten der freundlich gesinnten, wirtschaftlich und politisch freien, dennoch nichtjüdischen Welt, in der wir leben. Es ist nicht nur kompliziert, es ist schwer. Denn um unsere Mission zu erfüllen, müssen wir wichtige Entscheidungen treffen darüber, wer wir sind und wofür wir stehen.
Um zu wahrhaftigen Erben Abrahams zu werden, müssen wir eine Kultur, eine religiöse Zivilisation begreifen, die in vieler Hinsicht der Gesellschaft, in der wir leben, feindlich ist. Wir müssen sie uns zu eigen machen und mit uns nehmen. Wir müssen auf eine Reise gehen, so wie es unsere nomadischen Vorfahren taten. Wir müssen eine neue Sprache lernen, eine Literatur studieren, die an unseren Schulen nicht ge- lehrt wird, und uns zu Eßgewohnheiten und Kleidungsvorschriften verpflichten, die sich von denen der Menschen, unter denen wir leben, unterscheiden.
Es ist eine lange Reise, und es ist nicht immer eine leichte Reise, doch sie lohnt der Mühe. Denn der Preis, den wir auf unserem Weg erringen, ist ein moralischer Kompaß, eine Sammlung dessen, was recht und was unrecht, was erlaubt und was nicht erlaubt ist – eine Sammlung, die kostbar ist und Halt gibt.
Als Gott zu Abraham sagte, er solle gehen, versprach Er ihm vieles: Du wirst Erfolg haben, du wirst zu einem großen Volk werden und so weiter. Aber Er erlegte ihm auch etwas auf. Seine letzten an Abraham gerichteten Worte waren: »Ein Segen sollst du sein.« (1. Buch Moses 12,2). Das bedeutet, uns und unseren Familien Gutes zuteil werden zu lassen. Doch es bedeutet mehr als das. Es bedeutet, mit anderen unser Judentum zu teilen, mit allen Menschen, unter denen wir leben. Wir besitzen eine wunderbare, eine unschätzbare Tradition. Das ist uns auferlegt, wenn wir in Abrahams Fußstapfen treten. Hebräer (Iwrim) sind im wörtlichen Sinne Menschen, die von anderswo herkommen und in eine andere Richtung als alle anderen aufbrechen.
Laßt uns unsere Reise fortsetzen und beharrlich lernen, wie wir ein sinnvolles und wertvolles Leben führen können. Und laßt uns ein Segen sein für alle um uns.

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