Rede

»Wir wollen am Leben bleiben«

Wolodymyr Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj Foto: IMAGO/UPI Photo

Inständig wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend an die Knesset in Jerusalem und bat um mehr Hilfe. In Form von Waffen, Vermittlung und der Aufnahme von Flüchtlingen. In einem T-Shirt in Tarnfarben, das mittlerweile Markenzeichen für ihn geworden ist, symbolisiert er sein Land, das sich im Krieg befindet. Und er ist mittendrin.

Die Rede, die über einen Videolink ausgestrahlt wurde, rief in Israel gemischte Reaktionen hervor. Denn Selenskyj bemühte Holocaust-Vergleiche, die von einigen Abgeordneten scharf kritisiert wurden. Überwiegend zeigten die Abgeordneten jedoch vollstes Verständnis für seine verzweifelte Lage.

verbundenheit Der Präsident begann damit, die enge Verbundenheit zwischen dem »jüdischen und ukrainischen Volk« zu betonen und zitierte die legendäre Anführerin des jüdischen Staates, Golda Meir:

»Ich möchte Sie an die Worte einer großartigen Frau aus Kiew erinnern, die Sie sehr gut kennen. Die Worte von Golda Meir. ›Wir wollen am Leben bleiben. Unsere Nachbarn wollen uns tot sehen. Das ist keine Frage, die viel Spielraum für Kompromisse lässt.‹«

Selenskyj hätte kaum passendere Worte finden können, um seine Situation zu beschreiben. Die Worte der legendären israelischen Regierungschefin von einst sind erschreckend aktuell. Denn so schwer es Westeuropäern auch fallen mag, es zu realisieren: Dass der russische Präsident Wladimir Putin »die Ukrainer tot sehen will«, kann spätestens seit den vergangenen Tagen nicht mehr bezweifelt werden. Bilder aus der fast völlig zerstörten Stadt Mariupol sprechen eine deutliche Sprache.

Kompromisse Und tatsächlich gibt es wenig Möglichkeiten für Kompromisse, wenn ein einziger Mann versucht, die ganze Welt auf seine Seite zu bringen. Dafür ist ihm verständlicherweise jedes rhetorische Mittel recht. Obwohl es Selenskyj bereits geschafft hat, dass die westliche Welt verbündet hinter ihm steht, wagt sie sich, aus eindeutigen Gründen, nicht weiter als bis an die Grenzen seines Landes. Dass er aber weitere Schritte verlangt, ist in seiner Lage allzu verständlich.

»Unsere Leute sind jetzt über die ganze Welt verstreut. Sie suchen nach Sicherheit. Sie suchen nach einem Weg, um in Frieden zu leben, so wie Sie ihn gesucht haben. Diese russische Invasion in der Ukraine ist nicht nur eine militärische Operation, wie Moskau behauptet. Dies ist ein groß angelegter und verräterischer Krieg, der darauf abzielt, unser Volk zu zerstören, unsere Kinder, unsere Familien, unseren Staat, unsere Städte, unsere Gemeinden, unsere Kultur. Und alles, was Ukrainer zu Ukrainern macht. Dies alles zerstören die russischen Truppen jetzt. Absichtlich vor den Augen der ganzen Welt.«

Aus diesen Worten spricht die pure Verzweiflung. Dieser Mann will das Leben seines Volkes angesichts eines brutalen Krieges retten. Das der Kinder, der Mütter und Väter, der Nichtjuden und Juden. Das sieht auch Außenminister Yair Lapid so. Nach der Rede machte er klar: »Ich wiederhole meine Verurteilung des Angriffs auf die Ukraine und danke Präsident Selenskyj dafür, dass er seine Gefühle und die Notlage des ukrainischen Volkes mit den Mitgliedern der Knesset und der Regierung geteilt hat. Wir werden das ukrainische Volk weiterhin nach Kräften unterstützen und uns niemals von der Not der Menschen abwenden, die die Schrecken des Krieges kennen.«

»Deshalb habe ich das Recht auf diese Parallele und auf diesen Vergleich. Unsere Geschichte und Ihre Geschichte. Unser Krieg ums Überleben und der Zweite Weltkrieg. Hören Sie, was der Kreml sagt. Sie benutzen die Terminologie, die die Nazi-Partei benutzte. Es ist eine Tragödie. Als sie versuchten, ganz Europa zu unterwerfen und zu zerstören, wollten sie nichts von Ihnen übrig lassen. Sie nannten es die ›Endlösung der Judenfrage‹. Ich bin sicher, Sie erinnern sich daran und werden es nie vergessen. In Moskau benutzt man heute erneut diesen Begriff und spricht von der Endlösung. Aber diesmal sind wir gemeint.«

schoa-vergleich Es war vor allem dieser Vergleich, der in Israel Empörung hervorrief. Verschiedene Abgeordnete machten klar, dass man die Geschehnisse der Schoa nicht vergleichen könne – so schlimm ein Krieg auch sein mag. Auch Premierminister Naftali Bennett betonte, er sei der Überzeugung, dass man den Holocaust mit nichts gleichsetzen dürfe. »Es ist ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Nationen, der Welt – die systematische, industrielle Vernichtung eines Volkes in Gaskammern.«

Gleichzeitig zeigte Bennett Verständnis: »Selenskyj ist ein Anführer, der für das Leben seines Landes kämpft. Viele Hunderte Tote, Millionen Flüchtlinge. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, in seiner Haut zu stecken.«

»Der Holocaust ist ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Nationen, der Welt – die systematische, industrielle Vernichtung eines Volkes in Gaskammern.«

Premierminister Naftali Bennett

Auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem meldete sich zu Wort. Sie nannte Selenskyj nicht namentlich, kritisierte jedoch, dass im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg falsche Vergleiche mit der Ideologie und den Taten der Nazis gezogen würden. »Yad Vashem verurteilt diese Trivialisierung und Verzerrung der historischen Fakten des Holocaust«, heißt es in einer Stellungnahme.

Dass Selenskyj an einer Stelle die Vermittlung der israelischen Regierung mit den Worten »Vermittlung kann zwischen Staaten stattfinden, nicht zwischen Gut und Böse« kritisierte, war enttäuschend, besonders da er persönlich darum gebeten hatte. Zwar ist es moralisch korrekt, dass zwischen »Gut« und »Böse« eindeutig unterschieden werden muss, Israels Vermittlung im Konflikt aber ist kein Nachgeben zugunsten des Bösen, sondern will im Gegenteil dabei helfen, es zu stoppen.

Frieden Noch am selben Abend lenkte Selenskyj ein und schickte ein weiteres Video, in dem er Bennett für seinen Einsatz dankte. »Natürlich hat Israel eigenes Interesse und seine eigene Strategie, seine Bürger zu schützen. All das verstehen wir.« Jerusalem nannte er einen »richtigen Ort, um Frieden zu finden – falls das möglich ist«.

Auch hier zeigte Bennett Größe und gab zu verstehen: »Wir werden weiterhin zusammen mit anderen Ländern versuchen, den Krieg zu beenden. Es ist noch ein langer Weg, denn es gibt kontroverse Themen, einige davon von grundlegender Bedeutung. In letzter Zeit gab es Fortschritte zwischen den Parteien, aber die Gegensätze sind immer noch sehr groß.«

»Ich bin sicher, Sie spüren unseren Schmerz, aber könnten Sie erklären, warum wir immer noch die ganze Welt und viele Länder anrufen und um Hilfe bitten? Wir bitten Sie jetzt um Hilfe oder zumindest um Visa.«

flüchtlinge Damit bezog sich Selenskyj auf die Beschränkungen der israelischen Regierung für ukrainische Flüchtlinge, die nach der Invasion verhängt wurden. Die holprige Politik hat im In- und Ausland für Unverständnis gesorgt.

»Jeder in Israel weiß, dass Ihre Raketenabwehr die beste ist. Sie wissen, wie Sie Ihre Staatsinteressen und die Interessen Ihres Volkes verteidigen. Und Sie können uns definitiv helfen, unser Leben zu schützen, das Leben der Ukrainer, das Leben der ukrainischen Juden. Warum können wir von Ihnen keine Waffen bekommen, warum hat Israel keine ernsthaften Sanktionen gegen Russland verhängt?«

Dass Selenskyj Israel, das sich mit der Verteidigung seines Landes bestens auskennt, um Waffen bittet, ist nur zu verständlich. Das weiß Jerusalem genau. Doch Lieferungen des Raketenabwehrsystems »Iron Dome« beispielsweise könnten die sprichwörtliche »rote Linie« für Russland sein. Und Israel sieht sich im Zwiespalt zwischen dem Wunsch, der Ukraine zu helfen und Moskau nicht zu verärgern, auf dessen guten Willen es wegen der Einmischung beim Nachbarn Syrien angewiesen ist.

»Ich möchte klarmachen, dass Apathie tötet.«

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine

Israel wird die Kritik am Fehlen militärischer Hilfe nicht persönlich nehmen. Denn dies ist der Tenor in allen Ansprachen von Selenskyj, ob in den USA oder vor dem Bundestag. So beschwerte er sich bei den Amerikanern und Europäern über ihren Widerwillen, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu verhängen. Natürlich will er die »No-Fly-Zone«, natürlich verlangt er nach dem Iron Dome. Was für ein Staatsoberhaupt wäre er, wenn er sagen würde: »Ich verstehe alle Belange und Befindlichkeiten der anderen Länder. Lassen Sie uns ruhig im Stich.« Das kann und wird er nicht.

Einer der wichtigsten Sätze der Selenskyj-Rede war ein kleiner zum Schluss: »Ich möchte klarmachen, dass Apathie tötet.«

Leid Es ist sicher eine der größten Ängste, die Selenskyj hat: dass die Welt gleichgültig wird. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber werden wir in einem Monat noch weinen, wenn wir die Bilder der verzweifelten Menschen sehen? Werden wir in einem Jahr noch spenden, um das größte Leid zu lindern? Werden wir unsere Länder und Häuser öffnen, wenn weitere Millionen von Geflüchteten ankommen? Oder werden wir zur Tagesordnung übergehen und die Menschen in der Ukraine ihrem Schicksal überlassen?

Selenskyj richtete sich mit den Worten »Volk Israel, jetzt haben Sie diese Wahl« an diesem Abend nicht nur an die Menschen im jüdischen Staat – sondern an die ganze Welt.

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