Pro & Contra

Sollen »Vaterjuden« mit auf Machane?

Pro – Ruth Zeifert: Auch die Kinder jüdischer Väter gehören zu unserer Gemeinschaft

Beim Kabbalat Schabbat meiner liberalen Gemeinde sprach mich neulich eine Besucherin an: Sie habe mich noch nie gesehen. »Sind Sie Mitglied? Sind Sie Jude?« Ich sagte: »Nein, mein Vater ist Jude.«

Trotzdem habe ich mich entschlossen, die Gemeinde zu besuchen. Das Judentum ist ein Teil meiner Tradition. Und seit meine Kinder (sechs und acht) in eine bayerische Grundschule gehen, wo die katholische Kirche einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausübt, ist das praktizierte Judentum für mich erst recht wichtig geworden.

Noch sind wir recht fremd in dieser gewachsenen Gemeinschaft. Man wird Teil von ihr, wenn man Zeit miteinander verbringt und sich austauscht – und das ist den Menschen meiner Gemeinde bewusst. Eine Maßnahme sind gemeindeinterne »Mini-Machanot«, bei denen bereits die Kleinsten teilnehmen und Eltern mitfahren. Wir wurden jüngst dazu eingeladen.

Dissertation Bisher war ich noch nie auf einem Machane. Ich wusste als Kind nicht einmal, dass es so etwas gibt. Mein Vater stammt aus Israel. Er kam Ende der 50er-Jahre nach Frankfurt, wurde aber nicht Gemeindemitglied. Von den Machanot erfuhr ich erst, als ich im Rahmen meiner Dissertation Vaterjuden interviewte. Ein Geschwisterpärchen erwähnte sie: als wichtige Erfahrung, ausgeschlossen worden zu sein, aber auch, dass der Vater über die Machanot viele Kontakte knüpfen konnte.

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass sich die meisten jüdischen Familien in Deutschland aufgrund dieser jüdischen Freizeiten kennen. Richtig kennen. Wie gut das klingt. Unter Machanot verstehe ich Jugendfreizeiten, auf denen jüdischer Ritus und soziale Kontakte im Mittelpunkt stehen.

Gewissermaßen sind sie auch die »Schmiede« für das kommende Judentum. Man praktiziert und lernt die Tradition, man diskutiert. Manchmal entsteht aus den Zusammenkünften etwas Neues oder Abweichungen von Althergebrachtem. Es beginnt eine gemeinsame Geschichte – mit Liedern, Freundschaften und Ritualen. Ein Grundstein für das eigene jüdische Netzwerk wird gelegt.

Heiratsmarkt Machanot gelten als Heiratsmarkt. Viele Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder unter Juden heiraten. Einfach, weil es die Tora so will. Aber auch, wie ich in einer Diskussion über interreligiöse Ehen vernahm, weil man als Jude in Deutschland Ausgrenzung erfährt und eine innerjüdische Heirat eine geschütztere familiäre Umgebung mit sich brächte.

Dennoch sind interreligiöse Ehen weit verbreitet. Heiratet in Deutschland ein Jude, ist der Partner laut Statistischem Bundesamt bei drei Viertel der Eheschließungen ein Nichtjude oder eine Nichtjüdin. Sicherlich liegt das zum Teil daran, dass manche Juden ihr Judentum nicht leben, aber auch einfach daran, dass sich Juden in Nichtjuden verlieben.

In einer pluralen Gesellschaft mit nur wenigen Juden wäre es für junge Menschen geradezu weltfremd, die Religionszugehörigkeit als K.-o.-Kriterium bei der Partnerwahl zu setzen. Verliebt man sich im Studium oder in einer Diskothek in eine seelenverwandte, spannende Schönheit, fragt man nicht unbedingt: »Bist du ’ne Schickse?« Aber dann hat man (frau ja nicht) eine/n Goj zum Kind.

Anbieter Machanot gibt es von verschiedenen Anbietern. Am bekanntesten sind die der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Richten sich die Machanot von UpJ Netzer (Union progressiver Juden) an reformbewegte junge Juden (wobei auch Vaterjuden mitfahren dürfen, aber nicht als Madrichim), ist die Teilnahme an ZWST-Machanot für alle Mitglieder der Zentralratsgemeinden gedacht.

Diese wiederum handhaben die Aufnahme von Vaterjuden unterschiedlich. Einige liberale Gemeinden nehmen Vaterjuden auf – in der Regel nicht als Vollmitglieder, aber zum Beispiel als Fördermitglieder. Neben den Regeln hörte ich immer wieder von Einzelfällen – und durchaus auch von Aufnahmen in orthodoxe Gemeinden.

Die Teilnahme an Machanot sollte für Vaterjuden generell möglich sein. Denn es wäre eine Investition in die Zukunft des deutschen udentums und langfristig auch eine Maßnahme gegen sinkende Mitgliederzahlen. Dieser integrierende Ansatz entspricht der liberalen Tendenz, innerjüdische Diversität nicht nur zuzulassen, sondern diese auch zu wollen – im Rahmen der Halacha.

Pluralismus Wird sich die Tendenz zu einem pluraleren Verständnis der Zugehörigkeit nicht in den Möglichkeiten zur Teilnahme an Machanot widerspiegeln, ist von der engagierten neuen Generation zu erwarten, dass sie zunehmend andere Orte findet, jüdische Identität und jüdische Gemeinschaft zu stärken, zu erschaffen und zu leben.

Vaterjuden gehören immer stärker und selbstverständlich dazu. Sie sind »nicht Nichtjuden«, wie Rabbiner Tom Kucera einmal sagte, und es gibt immer mehr von ihnen in der Mischpoche. Mit einem Augenzwinkern könnte man erwähnen, dass schon im Talmud steht: »Die Familie des Vaters wird als die Familie des Kindes angesehen (...)« – und die Familie fährt natürlich mit in die Ferien. Wir jedenfalls freuen uns sehr über die Einladung und fahren gerne mit.

Ruth Zeifert (45) ist Soziologin und Tochter eines jüdischen Vaters. Sie besucht Gottesdienste der liberalen Gemeinde »Beit Schalom« in München, hat zu Patrilinearität promoviert und das Buch »Nicht ganz koscher – Vaterjuden in Deutschland« veröffentlicht.

Contra – Yossi Dobrovych: Damit schafft man »Teilnehmer zweiter Klasse« und Probleme für Madrichim

Als Vaterjude, der einen orthodoxen Giur vollzogen hat, als orthodoxer Jude, der heute als Madrich arbeitet, und als Bruder einer kleinen Schwester, die noch zu jung ist, um den Unterschied zwischen sogenannten Vaterjuden und halachischen Juden zu verstehen, liegt mir das Thema »Beteiligung an Machanot« sehr am Herzen.

Giurprozess Zunächst einmal möchte ich unterstreichen, dass jeder Person, die sich ernsthaft im Giurprozess befindet, die Hand gereicht werden soll. Unser Volk darf es sich nicht erlauben, ein Individuum, das sich mit ganzem Herzen für die Tora und ihre Gebote entschieden hat, willkürlich auszuschließen. Die Inklusion von Menschen im Giurprozess mit Bestätigung des Rabbiners ist nach meinem Wissen allerdings schon Realität beim Bund traditioneller Juden (BtJ) und auch bei der ZWST.

Schwieriger ist die Frage bei Kindern eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter, die sich nicht (oder noch nicht) für einen halachischen Giurprozess entschieden haben. Die Geschichte eines Vaterjuden ist in erster Linie oft die eines tiefliegenden inneren Konflikts.

Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer jahrtausendealten Tradition und die formelle Ablehnung seitens genau dieser prägen die Biografie. Es gibt eine tiefe innere Zerrissenheit bei den Fragen, die sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens stellt: »Wer bin ich, und wo gehöre ich dazu?« Ein Bekannter nannte es eine »schwarze Wolke«, die jedes Mal von Neuem auftaucht, wenn man mit der Frage des Jüdischseins konfrontiert wird; eine Wolke, die leider zu oft zu viel Energie raubt.

Identitätskrise Sicherlich gibt es Kinder jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter, die diese Identitätskrise nicht haben und ihren »Status« sehr gelassen hinnehmen. Der Prozentsatz der Betroffenen mit einer Identitätskrise ist allerdings nicht zu ignorieren, und die Frage nach dem Umgang mit diesen Menschen ist eine Frage, die sich jede jüdische Organisation stellen sollte.

Wenn es um die Inklusion von Vaterjuden bei Machanot, bei jüdischen Ferienlagern, geht, halte ich sie allerdings im Sinne der betroffenen Personen und auch der Madrichim nicht für sinnvoll. Der Konflikt des Vaterjuden ist ein innerer Konflikt, seine Natur ist emotional und psychisch. Eine Person, die selbst noch keinen Lösungsansatz gefunden hat, in ein Machane aufzunehmen und den inneren Konflikt noch weiter zu verschärfen, ist inakzeptabel und sicherlich nicht im Sinne des Betroffenen.

Einem Jugendlichen, dem selbst noch nicht klar ist, in welcher Art und Weise er sich mit dem Judentum konfrontieren möchte, über den jüdischen Staat, über die Tora und die Tradition zu unterrichten und dann abzuwarten, bis ihm eines Tages an den Kopf geworfen wird: »Du bist ja nicht halachisch jüdisch«, erscheint mir höchst unfair. Dem Jugendlichen vorzuheucheln, dass er oder sie angeblich jüdisch ist, ist ebenfalls keine Option, die ein halbwegs ehrlicher Madrich wählen würde.

Minjan Ich stelle mir vor, als Madrich an einem sonnigen Morgen während des Machanes aufzuwachen und zum Schacharitgebet zu gehen. Im Gebetsraum treffe ich eine Gruppe von Vaterjuden und halachischen Juden, die sich zu einem Minjan zusammenschließen wollen.

Wie soll ich den Jugendlichen erklären, warum einige nicht zu den zehn nötigen Betern gehören, und wieso nicht alle zur Tora aufgerufen werden? Als Madrich, der aus persönlicher Überzeugung der orthodoxen Halacha treu bleiben will, müsste ich nun entscheiden, ob ich entweder meinen Überzeugungen zuwiderhandele oder einem Menschen das Gefühl gebe, Teilnehmer zweiter Klasse zu sein.

Die Vorstellung, dass Madrichim solche Entscheidungen treffen müssten, gefällt mir überhaupt nicht. Es wäre sicherlich sinnvoll, Menschen, die sich die Identitätsfrage immer wieder stellen, ein Forum zu geben, in dem sie erst einmal einen eigenen Bezug zu dem Thema erarbeiten können, anstatt sie ins kalte Wasser zu werfen.

Gebote Einen Giur als Mittel für die Lösung innerer Probleme zu wählen, ist falsch und nützt auch nichts. Das wäre eine Profanisierung des Heiligen, denn die Annahme der g’ttlichen Gebote war niemals als Mittel gegen Identitätskrisen gedacht, sondern sie ist Manifestation der Verbundenheit zu Israel und zum G’tt Israels mit seiner Tora und ihren Geboten. Sie sind nicht nur Privileg, sondern auch moralische Verpflichtung.

Wer sich für den Giur entscheidet, entscheidet sich auch für seine Überzeugung und oft dafür, den eigenen Komfort zu opfern. Ein tiefer innerer Konflikt kann nicht durch eine äußerliche »Statusänderung« beseitigt werden, sondern durch einen Wechsel der Perspektive. Welchen Lösungsansatz man auch wählen mag, er muss immer aus besonnener Überzeugung und einem Gefühl von Selbstliebe kommen.

Die Aufnahme von Vaterjuden in Machanot wäre für diesen sanften Selbstfindungsprozess allerdings nicht hilfreich. Deswegen kann ich trotz meiner persönlichen Geschichte oder vielleicht gerade deswegen nicht anders, als gegen solch eine Inklusion zu plädieren.

Yossi Dobrovych (21) ist Sohn eines jüdischen Vaters und hat einen orthodoxen Übertritt zum Judentum vollzogen. Er studiert am Rabbinerseminar zu Berlin. Dobrovych war und ist Madrich bei verschiedenen Machanot.

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