Eine faszinierende Interaktion zwischen den Generationen: Noemi Staszewski zeigt sich beeindruckt von der innigen Verbindung, die während der Arbeit am »Zeitzeugentheater« zwischen Schoa-Überlebenden und jüdischen Jugendlichen entstanden ist. Die 2022 verstorbene Mitbegründerin der ZWST-»Treffpunkte« für Überlebende und ihre Nachkommen schildert ihre Eindrücke in Nathaniel Knops Dokumentarfilm Jetzt?. Am 22. April feierte er beim »Lichter Filmfest Frankfurt International« Premiere.
Der Film zeigt die Entstehung des im Februar 2020 im Frankfurter Gemeindezentrum aufgeführten Theaterstücks und lässt dessen Protagonisten – sechs Zeitzeugen und neun Schüler – sowie die Begleiter des ambitionierten Projekts der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) zu Wort kommen. Wegen der Corona-Pandemie konnte das ursprünglich an 60 israelischen Schulen umgesetzte Theaterprojekt, in dem Jugendliche die (Über-)Lebensgeschichten von Zeitzeugen szenisch darstellen, nicht wie geplant weitergeführt werden.
Lang anhaltender Applaus
Lang anhaltende Ovationen im Festsaal des Ignatz Bubis-Gemeindezentrums: In der Eingangsszene sind die Überlebenden und Jugendlichen im Anschluss an die Aufführung gemeinsam auf der Bühne zu sehen. Treffpunkt-Leiterin Esther Petri-Adiel und weitere Beteiligte schildern den Abend als unvergesslich und berührend. Auch der ungewöhnlich intensive Publikumszuspruch ist vielen in Erinnerung geblieben. Wie herausfordernd der insgesamt neunmonatige Weg zu diesem Theaterabend gewesen ist, dokumentiert Knops Film eindrücklich.
Die gemeinsame Arbeit beginnt mit einem Treffen, bei dem die Motivation und die Erwartungen der Beteiligten zur Sprache kommen: »Ich erwarte, dass unsere schlimme, grausame Geschichte nicht vergessen wird«, sagt etwa Eva Szepesi.
Es sind erschütternde Schicksale wie das von Dora Zinger.
»Das Kennenlernen stand am Beginn«, erinnert sich Esther Petri-Adiel beim Podiumsgespräch nach der Filmpremiere im ausverkauften »Naxos«-Kino. Als man, so Petri-Adiel, zu einer großen Mischpoche geworden sei, hätten die Überlebenden begonnen, ihre Geschichten zu erzählen.
Es sind erschütternde Schicksale wie das von Dora Zinger: 1940 in Vadul Raşcov in Moldau geboren, lebte sie seit dem deutschen Einmarsch 1941 bis zur Befreiung im Ghetto von Winnyzja. Als Jugendliche erfuhr Dora Zinger, dass ihre leibliche Mutter im Alter von nur 23 Jahren im Ghetto ums Leben gekommen ist und sie daher von ihrer Tante aufgezogen wurde. Wie spielt man das schiere, sprachlos machende Grauen der Schoa? Diese Frage schwebt unausgesprochen über dem gesamten Entstehungsprozess des Zeitzeugentheaters.
Schwer erträgliche Geschichten
Die Regisseurin und Theaterpädagogin Svetlana Fourer zeigt den Jugendlichen und Überlebenden Wege auf, die schwer erträglichen Geschichten gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Der Komponist und Performer Elischa Kaminer begleitet das Projekt musikalisch, während Isidor Kaminer für den Fall psychischer Krisensituationen bereitsteht. »Es war bei allen die Sorge da: Was passiert, wenn man es inszeniert?«, erinnert sich der Psychoanalytiker. Die gemeinsame Arbeit an den Geschichten der Zeitzeugen sei von großer Anspannung begleitet gewesen. Gleichwohl habe er nicht eingreifen müssen, sagt Kaminer.
Nathaniel Knops Film gleicht einem Werkstattbericht. Immer wieder sind Proben zu sehen, aber auch Diskussionen, wie sich die Geschichten in ein Theaterstück umsetzen lassen: Wer übernimmt welche Rolle? Wer spielt im Zweifel den Nazi? Irgendwann halten sich die Überlebenden und Jugendlichen auf der Bühne aneinander fest, sie wachsen buchstäblich in der Inszenierung zusammen.
Mit großer Hingabe spielen zwei Mädchen Eva Szepesis herzzerreißenden Abschied von ihrer Mutter nach. »Die Jugendlichen haben mitgefühlt«, sagt Szepesi nach der Filmpremiere. »Das hat so gutgetan«, sagt die in Budapest geborene Zeitzeugin.
»Wir wurden zu einer Familie«
»Wir wurden zu einer Familie«, bestätigt auch Dora Zinger, die heute mit einem Sohn und zwei Enkelkindern in Frankfurt lebt. »Weil die Jugendlichen so zugewandt und herzlich waren, konnten die Überlebenden etwas von ihrem Herz weitergeben«, resümiert Isidor Kaminer mit dem Abstand von nunmehr fünf Jahren.
Aus den damaligen Schülern sind junge Männer und Frauen geworden. Die meisten haben Frankfurt verlassen, um zu studieren. Im Naxos-Kino betonen die anwesenden jungen Projektteilnehmer ihre Verantwortung als »neue Zeitzeugen«: »Für mich ist geblieben, dass hinter diesen Geschichten Leben stecken, dass diese Leben und diese Hoffnung weitergehen«, sagt Emmanuel Skatchkov.
Hinter den Geschichten steckten Leben, und diese gingen weiter, sagt einer der Teilnehmer.
Sie habe verstanden, berichtet Dora Zinger, »dass mein Schmerz an die Jugendlichen weitergegeben wurde. Er ist durch ihre Herzen gegangen«. Eva Szepesis Tochter Anita Schwarz dankt den Jugendlichen: Mit ihren Gefühlen hätten sie es ihrer Mutter ermöglicht, sich weiter zu öffnen.
Und dann weist Isidor Kaminer auf abwesende Mitspieler hin: die Eltern der Überlebenden, die in der Schoa umgebracht wurden. Mit ihrer Liebe hätten sie ihren Kindern etwas mitgegeben.
Die große Kraft in diesem Stück sei, so Kaminers Resümee, »dass etwas von dieser Liebe in der Beziehung der Überlebenden mit den Jugendlichen lebendig geworden ist«. Dieser Abend macht deutlich, dass das Zeitzeugentheater ein nachhaltiges Band zwischen den Generationen geschaffen hat. Noemi Staszewski hätte sich sicherlich darüber gefreut.