Er werde nie das Gefühl vergessen, das er hatte, als seine Mutter beim Anblick der alten Fabrik und der Büros der Deutschen Kabelwerke plötzlich ihre Fingernägel in seinem Arm vergrub, sagt Tomas Simon Hirschmann aus Guatemala. Da war die 83-jährige Lisa Hirschmann das erste Mal seit der Schoa wieder in Berlin und stand vor den Gebäuden, die einst ihrem Schwiegervater Siegfried und dessen Bruder Bernhardt Hirschmann gehörten.
1932 hatte sie als Fotografin alle für eine Firmenbroschüre abgelichtet. Die Bilder hatten sie in die Emigration begleitet. »Die Häuser waren 1990 verfallen, in einem schlechten Zustand, aber für sie waren sie ein direkter Blick in ihre Vergangenheit«, sagt der heute 79-Jährige. Beide hatten damals Tränen in den Augen.
27 Jahre später steht Tomas Simon Hirschmann wieder in der Boxhagener Straße. Von der Fabrik ist nichts mehr übrig. Stattdessen entstehen 650 Wohnungen. Gerade hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) ihn begrüßt und gesagt, er freue sich, dass Hirschmann extra zum Richtfest aus Guatemala gekommen sei. Seine Frau legt ihm aufmunternd ihre Hand auf die Schulter, bevor er vor seinen Kindern, Enkeln und 600 Menschen seine Rede hält.
wohnheim Wenige Tage später wird er wieder eine kurze Rede halten – bei der Namensgebung des Studentenwohnheims in der Fasanenstraße. Das Haus in Trägerschaft des Moses Mendelssohn Zentrums trägt seit Donnerstag den Namen seiner Tante Gabriele Tergit (1894–1982). »Es ist mir eine Riesenfreude, bei beidem dabei sein zu können«, sagt er.
Elise Hirschmann war der Geburtsname seiner Tante, die sich ein Pseudonym zulegte, unter dem sie als Schriftstellerin publizierte. Bis zur Machtübernahme der Nazis arbeitete sie in Berlin als Zeitungsreporterin und schrieb vor allem Gerichtsreportagen, auch über den Prozess gegen Adolf Hitler, als dieser wegen eines Pressevergehens angeklagt wurde. 1933 emigrierte sie und ging später nach London.
Pünktlich zur Namensgebung wurde Tergits Biografie mit einer »Jüdischen Miniatur« gewürdigt und den Studenten überreicht. »Wir möchten, dass Sie sich auch mit jüdischen Schicksalen auseinandersetzen«, sagt die Autorin und Mitarbeiterin des Moses Mendelssohn Zentrums, Elke-Vera Kotowski. Alle Wohnheime in dessen Trägerschaft werden ab sofort einen jüdischen Namen erhalten.
fabrik Vor 120 Jahren gründete Siegfried Hirschmann die Deutschen Kabelwerke, mit denen er rasch erfolgreich wurde. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde er 1933 von der Gestapo abgeführt und im Moabiter Untersuchungsgefängnis inhaftiert. Er musste seine Anteile weit unter Wert verkaufen. Siegfried und seine Frau Frieda entschieden sich, ihren Kindern nach Guatemala zu folgen, und emigrierten in letzter Minute. Doch Siegfried Hirschmann konnte sich von den Erlebnissen nicht mehr erholen. Er starb 1942.
Tomas Simon wurde Ingenieur für Geotechnik und Manager eines Schweizer Unternehmens. Als sein Sohn David in Deutschland die Sprache lernen wollte, wurden er und seine Mutter inspiriert, nach Berlin zu reisen. Und so begann die Suche nach der Vergangenheit der Familie – auch mit dem Gedanken, die Recherchen zu nutzen, »um Ansprüche auf das geltend zu machen, was unserer Familie 1935 so entwürdigend genommen wurde«.
An seinen Großvater »Opa Fritz« hat Tomas Hirschmann noch viele Erinnerungen, obwohl er starb, als er noch ein Kind war. »Er war ein bescheidener, weltgewandter, hochgewachsener Herr«, so der Enkel. Er glaube, dass es in dessen Sinne sei, dass auf dem Areal nun Wohnungen entstehen.
entschädigung »Die Vergangenheit und der Schmerz sind vergeben, aber sie sollen und dürfen nie vergessen werden. Die Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind.« Auch machten sie Deutschland und die Deutschen heute zu einer Gesellschaft, die zu bewundern sei. Das sagt Hirschmann, obwohl die Familie jahrzehntelang um eine finanzielle Entschädigung kämpfen musste.
Bereits in den 50er-Jahren listete die Familie einen Schadensbericht auf. Einen Teil davon erhielt sie erst in den 70er-Jahren von den deutschen Behörden. Die Dresdner Bank, die in den 30er-Jahren die Aktienpakete der Hirschmanns unter Wert gekauft hatte, zahlte 1969 einen Vergleich zur »endgültigen Abgeltung von Schadensersatzansprüchen in Höhe von 250.000 Mark an die Nachkommen«, schreibt Sven Heinemann in dem Buch Boxhagen beginnt.
Die beantragte Rückübertragung des Betriebs- und Grundvermögens wurde abgelehnt. Allerdings sprach das Berliner Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen einen Anspruch auf Entschädigung nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz zu. Die Auseinandersetzung zog sich bis 2009 hin.
lebensart Zumindest die Familie von Bernhardt Hirschmann erhielt schließlich 750.000 Euro, Tomas Hirschmann gar nichts. Berlin war ihm dennoch immer nah – obwohl er in Guatemala-Stadt geboren und aufgewachsen ist. So habe er Deutsch von seiner Großmutter gelernt.
»Meine Eltern und Großeltern nahmen die Berliner Lebensart und ihre Sitten mit. Obwohl wir Tausende Kilometer entfernt leben, wissen wir sehr wohl in unserem Herzen, wie nahe uns immer noch Berlin und Deutschland sind.«