Nira Schneider fährt mit der Hand langsam über das karamellfarbene Holz. Ihre Fingerkuppen berühren die Lehne, den Sitz, die Mulde. Sie fahren über kleine Huckel, vorbei an sichtbaren Rissen und flüchtigen Kratzern. Das war ihr alter Sitz, hier oben auf der Frauenempore – in der Mitte, in einer der vorderen Reihen. »Dort saß Frau Ehrenberg«, deutet sie auf den Platz vor sich. »Hier Frau Viktor, Gott hab sie selig, ja, und hier, genau hier saß ich.«
Schneider blickt einen Moment auf diesen Sitz und dreht sich dann zu ihrer Tochter um. Beide schauen sich an – ein Gespräch ohne Worte. »Das müssen wir einfach anfassen. Das sind wir«, sagt Sina Amar, ihre Tochter, plötzlich und geht die kleine Stufe hoch. Die beiden Münchnerinnen stehen am Montagabend vor den Klappbänken, die noch immer so sind wie damals, in ihrer alten »Reichenbach«.
Das elegante Gebäude im Hinterhof des Gärtnerplatzviertels steckt voller Geschichten.
Ihre alte Schul ist seit dem 15. September ganz offiziell Geschichte. Und doch ist diese schlichte, elegante Synagoge, die lange im Hinterhof des Gärtnerplatzviertels schlief, eine Geschichte für sich mit wiederum vielen kleinen Geschichten. Wie eben die der Familie Schneider aus München. »Ich saß schon als kleines Kind da vorn an der Empore«, erzählt Amar und umreißt den Platz, auf den ihre Mutter sie bereits als Dreijährige gesetzt hatte, mit kreisenden flachen Handtellern. »Meine Mutter stand dann so hinter mir, hielt mich fest, und wir schauten beide hinunter.« Schick angezogen seien sie gewesen, erinnert sich die auch heute elegant gekleidete Nira Schneider, wie immer zu den Hohen Feiertagen.
Rachel Salamander warf in ihrer Rede einen Blick zurück
Damals war alles genau so, wie es auch Rachel Salamander etwas früher am Abend in ihrer Rede beschrieben hatte. Sie warf darin ebenfalls einen Blick zurück. »An den Feiertagen herrschte Festlichkeit im Bethaus. Jeder trug sein bestes Gewand. Auf der Frauenempore waren als gebotene Kopfbedeckung die schönsten Hüte zu sehen.« Nach dem Gottesdienst und dem Verlassen der Reichenbach endete auch die Festtagsstimmung, berichtet Salamander. »Wir tauchten wieder ein in den geschäftigen nichtjüdischen deutschen Alltag. Mit unserer feierlichen Kleidung fielen wir im Stadtbild auf.«
Rachel Salamander steht an diesem Abend, an dem die Synagoge ihre dritte Eröffnung mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Münchner Stadtgesellschaft, Politik und Kultur feiert, in der Mitte des Hauses. Sie ist feierlich gekleidet, das zarte Blau ihres Kleides gleicht beinahe dem Blau der Wand hinter ihr. Ein zurückhaltender Farbton, der bei Sonnenlicht seine Nuance ändert. Salamander spricht über den Moment im Jahr 2011, der in ihr den Wunsch gedeihen ließ, diesen Ort eben nicht der Zeit preiszugeben.
Der Wunsch, diesen Ort eben nicht der Zeit preiszugeben
»Ich ging an dem Gebäude vorbei, um in den hinteren Teil des Anwesens zur Chewra Kadischa zu gelangen. Aus Neugierde schaute ich durch die Fenster und war zutiefst erschrocken über den schlechten Zustand der Synagoge.« Salamander wusste, dass sie etwas tun musste, und gründete, zusammen mit dem Münchener Rechtsanwalt Ron Jakubowicz, den Verein Synagoge Reichenbachstraße.
Die Eröffnung ist feierlich, sie bewegt die über 450 geladenen Gäste. Bundeskanzler Friedrich Merz, der neben dem bayerischen Ministerpräsidenten Marcus Söder, dem Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter und IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch zu den Gästen spricht, hat sichtlich mit den Tränen zu kämpfen. Seine Stimme bricht, als er die Frage zitiert, die Rachel Salamander als Kind immer wieder stellte, ob denn den Juden niemand geholfen habe? Ohne ein Festhalten an der naiven Hilfserwartung des Kindes wären wir doch als Menschen verloren, zitiert Merz aus einem Buch Salamanders. Er sei entsetzt darüber, dass Antisemitismus in Deutschland wieder aufgeflammt sei.
»Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr mich das beschämt: als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, aber auch als Deutscher, als Kind der Nachkriegsgeneration, als Kind, das aufgewachsen ist mit dem ›Nie wieder‹ als Auftrag, als Pflicht, als Versprechen«, sagte Merz.
Fragen, ja Zweifel darüber, wie ernst es der Bundeskanzler meint, beschäftigen Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober umso mehr. Gerade auch, wenn es um die Unterstützung Israels geht.
Gebrochene Stimmen, verlorene Worte und Erinnerungen
Die gebrochenen Stimmen, die verlorenen Worte und Erinnerungen nahm der Pianist Igor Levit auf. Er spielte an diesem Abend Felix Mendelssohn Bartholdys »Lieder ohne Worte«, Stücke, die nach hauchdünner Verletzlichkeit klingen und die wie für diesen Tag geschrieben wirken. Das Publikum hört sie, unter ihnen auch die Journalistin Patricia Riekel, die Schauspielerin Uschi Glas, der Produzent Oliver Berben.
Nach 90 Jahren hat sich am Montagabend
ein Kreis geschlossen.
Es war ein langer Weg bis zu diesem Abend, auf dem es einige Hürden zu überwinden galt, die sich von Denkmalschutz über Auflagen bis hin zur Finanzierung zogen. »Der Bund, der Freistaat Bayern und die Stadt München haben zu je einem Drittel die Wiederherstellung übernommen. Der Verein muss einen Eigenanteil von zehn Prozent erbringen«, erläuterte Salamander wenige Wochen vor der Eröffnung in einem Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.
Und für die strengen Auflagen des Denkmalschutzes, der ursprünglich wollte, dass man den Zustand der provisorischen Renovierung der Synagoge von 1947 wiederherstellt, gab es auch eine Einigung. Entstanden ist eine Synagoge der Farben, der Stoffe – ein Ort der Wärme.
Synagoge der Farben, der Stoffe – ein Ort der Wärme
Was würde wohl der Architekt Gustav Meyerstein sagen, würde er heute seine Synagoge betreten, die er mit wenigen Mitteln entwarf? Er würde das Weinrot im Vorraum sehen, das Milchglas, durch das flaches Sonnenlicht fällt. Er würde wieder vor seinen Fenstern stehen, die von derselben Münchner Glaserei nach dem ursprünglichen Design wieder hergestellt wurden, die sie schon zu Meyersteins Zeiten 1931 entworfen hatte.
Durch diese Fenster fällt das Sonnenlicht eines Spätsommerabends. Auf ihnen sind Motive zu erkennen: eine Krone, die Gesetzestafeln und Menorot. Neben dem glasigen Blaugrau leuchten die kleinen, schmalen orangenen Segmente so, als wäre die Menora, die sie formen, voller angezündeter Kerzen. Meyerstein würde das Ner Tamid sehen, das über und vor dem Toraschrank hängt. Und ihm würde der Stoff, der den Toraschrank bedeckt, wahrscheinlich bekannt vorkommen. Denn es ist der Stoff, den die Münchner Bauhaus-Meisterin Gunta Stölzl gewebt hat.
Ihr Enkel Ariel Aloni ist bei dieser dritten Eröffnung vor Ort. Monate zuvor hatte er Rachel Salamander drei Originalstoffe seiner Großmutter geschenkt. »Aloni sagte mir«, erinnert sich Salamander in ihrer Rede, »dass das für ihn das emotionalste Projekt seines Lebens gewesen sei.« Nach 90 Jahren habe sich so ein Kreis geschlossen. »Die Arbeiten einer der prägendsten Bauhaus-Künstlerinnen aus München kehren in eine Bauhaus-Synagoge zurück. Was für ein Glücksfall!«
Ein Glücksfall soll die Synagoge Reichenbachstraße auch für die Stadt München werden
Ein Glücksfall soll die Synagoge Reichenbachstraße auch für die Stadt München werden. Sie soll ein Ort der Begegnung, Bildung und Kultur werden. Sicherlich auch für fröhliche Barmizwa-Feiern oder Gottesdienste, also eine Bereicherung des Gemeindelebens.
Was auch immer die Zukunft für die Synagoge bringen wird, für Charlotte Knobloch, die eine der eindrücklichsten Reden des Abends gehalten hat, steht beim Blick in den Saal erst einmal fest: »Schön schaut’s aus.« »Diese neue alte Synagoge Reichenbachstraße ist ein funkelndes Juwel in unserer schönen Stadt«, sagt Knobloch. Was hier entstanden sei, das habe Bedeutung. Zudem bewahre dieser Ort das Judentum »aus der Zeit vor dem Naziterror und vor dem Holocaust«.
Wie ernst es Merz meint, fragen sich Juden
nach dem 7. Oktober.
Drei Tage sind für das fast 100-jährige Leben der Synagoge Reichenbachstraße von großer Bedeutung: der 5. September 1931, der 20. Mai 1947 und der 15. September 2025, also der Tag der Einweihung, der Wiedereröffnung und der Rekonstruktion. Die Erfahrungen, aber auch die Befürchtung, dass sich alles immer ändern kann, schweben über dem Haus. »Kein Ort in München bindet in sich so viele Erinnerungen der letzten jüdischen Generationen wie dieses Haus.« Es war das schlagende religiöse Herz einer Gemeinde, deren Mitglieder sich an kaum etwas anderes halten konnten als an sich selbst, wird Knobloch sagen.
Die Familien dieser Mitglieder sind Familien wie die Schneiders, die mit diesem Ort ihr Judentum verbinden, das jetzt, so kurz vor den Hohen Feiertagen, neben der Ohel-Jakob-Synagoge ein zweites Zuhause finden kann.
Und vielleicht, wenn die Familien zu Rosch Haschana wieder im Gottesdienst am Jakobsplatz sitzen, denken sie an ihre Reichenbach. Die mit dem karamellfarbenen Holz, über das man seine Fingerkuppen streifen lassen kann, in der die Stühle kleine Mulden haben, bei der die Fächer oben auf der Frauenempore vor den Sitzen noch die Knöpfe von damals tragen.
Die Reichenbach, in der zu sehen ist, wie schlicht und edel, wie zurückhaltend farbenfroh das Bauhaus war. Sie ist wieder in München, die Reichenbach.