Berlin

Zeugnisse aus Jahrzehnten

Die Autorin und Journalistin Inge Deutschkron im Gespräch mit André Schmitz Foto: Chris Hartung

Sehr viel Papier lagerte bislang in der Wohnung von Inge Deutschkron, wie Besucher der Berliner Schriftstellerin und Journalistin berichten. Am Sonntag wurde das umfangreiche Archiv der mittlerweile 95-Jährigen an die Berliner Akademie der Künste übergeben. »Ab sofort steht es der Öffentlichkeit zur Verfügung«, sagte die sichtlich bewegte Präsidentin der Akademie, die Regisseurin Jeanine Meerapfel.

Was Deutschkron, die Verfasserin des autobiografischen Welterfolgs Ich trug den gelben Stern über die Jahrzehnte gesammelt hat, dürfte für jedes Archiv dieser Welt ein unschätzbarer Gewinn sein. Die Schoa überlebte sie zunächst in der Berliner Blindenwerkstatt Otto Weidt, die erst durch sie zu später Anerkennung und Berühmtheit gelangte. Als Weidt nicht mehr seine schützende Hand über die größtenteils jüdischen Angestellten halten konnte, tauchte Deutschkron in privaten Verstecken ab und überlebte die Schoa dort. Im nun der Akademie der Künste übergebenen Archiv findet sich auch die Liste der Wohnungen, Lauben und des Bootshauses, in dem Deutschkron auf das Ende der NS-Herrschaft wartete.

Was Deutschkron nach 1945 erlebte, davon berichtete sie am Sonntag bei der Archivübergabe vor vollem Haus in der Akademie der Künste am Berliner Pariser Platz. Die Tochter eines sozialdemokratischen Lehrers engagierte sich in der SPD und bei den Jungsozialisten, wurde in der zentralen Bildungsverwaltung Berlins angestellt und dort bald von der Sowjetischen Militäradministration unter Druck gesetzt.

schoa Sie siedelte nach England um, wohin ihr Vater vor der Schoa hatte fliehen können, und wurde dort in der Sozialistischen Internationale aktiv. Für sie bereiste sie unter anderem ein Jahr lang Indien, Burma und Nepal und lernte eine neue, sie prägende Welt kennen. »Ich hatte gewusst, dass es ein armes Land war, aber nicht, wie arm«, erzählte Deutschkron. Im Zug – »3. Klasse, Frauencoupet. Sie haben keine Ahnung, was das ist!« – reiste sie 1954 als Frau allein durch Indien. Sie verfasste Reiseberichte und wurde Schriftstellerin und Journalistin. »Ich wollte Werbung machen für Indien.«

Viele Fotos und frühe Berichte dieses prägenden Erlebnisses lagern im Archiv. Etwa die Stichworte, die sie sich für einen Vortrag im Jahr 1964 gemacht hatte, um über die im Westen unterschätzte Region zu berichten: »dass Soz. ohne Demokratie zu nichts führen kann«, notierte sie als eine Lehre ihrer Reise. »Soz.« stand für Sozialismus.

1955 wechselte Deutschkron nach Berlin. Nach England wollte sie nicht mehr, dort hatte man sie als »feindliche Ausländerin« wahrgenommen, und Israel war ihr damals noch fremd: »Ich war nicht religiös, ich hatte keine Kontakte, das wäre nicht gut gegangen.«

auschwitz-Prozess Als Journalistin berichtete sie unter anderem vom Frankfurter Auschwitz-Prozess, vor allem für die israelische Tageszeitung »Maariv«, aber auch für andere Blätter. 29 Stenoblöcke ihrer Notizen zu dem Versuch, die Massenvernichtung juristisch aufzuarbeiten, hat sie angelegt und dem Archiv überlassen.

Auch Manuskripte ihrer damaligen Artikel finden sich, etwa ihre Warnung, den Auschwitz-Prozess »eigentlich nicht als makaber« zu bezeichnen, die sie 1964 in der deutschsprachigen israelischen Zeitung »Yedioth Hadashot« veröffentlichte. Ihre Einschätzung des Auschwitz-Prozesses ist bis heute negativ: »Die Urteile waren in keiner Weise adäquat. Ich bin kein Richter, aber das kann ich beurteilen.«

Die Vorbehalte, auf die Deutschkron, seit 1966 im Besitz eines israelischen Passes, stieß, waren enorm. »Sie haben ja gar kein Abitur«, gehörte noch zu dem harmlosesten Ressentiments, die sich Deutschkron, die wegen der NS-Herrschaft die Schule verlassen musste, anzuhören hatte. Auch wurden ihr, die von 1958 bis 1972 für Maariv akkreditiert war, Bemerkungen gesteckt, die Juden hätten sich doch an den Deutschen bereichert und Ähnliches.

skandal Einmal, 1960, sorgte Deutschkron für einen handfesten Skandal: Sie sah auf einem Bonner Karnevalsball einen deutschen Journalistenkollegen, der sich als orthodoxer Jude verkleidet hatte. Das fand Deutschkron, die gerade erst zu den Hintergründen des Anschlags auf die Kölner Synagoge 1959 recherchiert hatte, geschmacklos: »Ich drehte mich um und gab ihm eins auf die Fresse.« Bereut hat sie ihre Tat bis heute nicht, auch wenn es ihr in Bonner Journalistenkreisen Feindschaft eintrug.

Für solche Geschichten wird Deutschkrons Archiv, das nun für Forschung und interessierte Fachöffentlichkeit zugänglich ist, eher wenig hergeben. Was sich aber neben Korrespondenzen, Artikeln, Fotos und Notizen findet, sind umfangreiche Unterlagen zu dem Theaterstück Ab heute heißt du Sara, das vom Berliner Grips-Theater zum Welterfolg gemacht wurde und das auf Inge Deutschkrons Ich trug den gelben Stern basiert.

Dialog

Digital mitdenken

Schalom Aleikum widmete sich unter dem Motto »Elefant im Raum« einem wichtigen Thema

von Stefan Laurin  28.03.2024

Jugendzentren

Gemeinsam stark

Der Gastgeber Hannover ist hoch motiviert – auch Kinder aus kleineren Gemeinden reisen zur Jewrovision

von Christine Schmitt  28.03.2024

Jewrovision

»Seid ihr selbst auf der Bühne«

Jurymitglied Mateo Jasik über Vorbereitung, gelungene Auftritte und vor allem: Spaß

von Christine Schmitt  28.03.2024

Literaturhandlung

Ein Kapitel geht zu Ende

Vor 33 Jahren wurde die Literaturhandlung Berlin gegründet, um jüdisches Leben abzubilden – nun schließt sie

von Christine Schmitt  28.03.2024

Antonia Yamin

»Die eigene Meinung bilden«

Die Reporterin wird Leiterin von Taglit Germany und will mehr jungen Juden Reisen nach Israel ermöglichen. Ein Gespräch

von Mascha Malburg  28.03.2024

Hannover

Tipps von Jewrovision-Juror Mike Singer

Der 24-jährige Rapper und Sänger wurde selbst in einer Castingshow für Kinder bekannt.

 26.03.2024

Party

Wenn Dinos Hamantaschen essen

Die Jüdische Gemeinde Chabad Lubawitsch lud Geflüchtete und Familien zur großen Purimfeier in ein Hotel am Potsdamer Platz

von Katrin Richter  25.03.2024

Antisemitismus

»Limitiertes Verständnis«

Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky über ihre Arbeit mit deutschen Hochschulen

von Martin Brandt  24.03.2024

Porträt der Woche

Die Kreative

Mona Yahia stammt aus dem Irak, spricht viele Sprachen, ist Künstlerin und Autorin

von Christine Schmitt  24.03.2024