In Berlin feierte am Abend der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 75-jähriges Jubiläum im Rahmen eines großen Rosch-Haschana-Empfangs, zu dem viel Prominenz kam, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Das Jahr 5786 wurde in diesem Rahmen fünf Tage im Voraus eingeläutet.
Das Atrium und der Garten des Jüdischen Museums boten die richtige Atmosphäre. Zudem hätte der Platz im Leo-Baeck-Haus nicht annähernd ausgereicht. Außenminister Johann Wadephul (CDU), Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und mehrere ihrer Kollegen waren Teil des Empfangs, ebenso wie der israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Ron Prosor. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner folgte der Einladung des Zentralrates auch. Die Holocaustüberlebende, frühere Zentralratspräsidentin und heutige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, war ebenfalls Teil der Feier.
Gastgeber Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates, erklärte vor den Mitarbeitern der jüdischen Dachorganisation und den Gästen, das Fest sei weit mehr als ein Jubiläum. »Es ist ein Symbol für das Überleben und die Erneuerung jüdischen Lebens in Deutschland. Dass unsere Gemeinschaft nur wenige Jahre nach der Schoa wieder eine eigene Stimme bekam, war ein Akt des Mutes. Heute sehen wir, dass jüdisches Leben in Deutschland vielfältig und sichtbar ist – und das ist alles andere als selbstverständlich.«
»Klar und deutlich«
»Gleichzeitig stehen wir vor großen Herausforderungen«, so der Präsident des Zentralrates. Er erwähnte den wachsenden Antisemitismus, Angriffe auf die Demokratie und »die Frage, wie wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken können. Dieses Jubiläum ist für uns deshalb nicht nur ein Moment der Freude, sondern auch ein Auftrag, unsere Stimme weiterhin klar und deutlich, auch im Sinne unserer Demokratie, zu erheben.«
Schuster sprach die von palästinensischen Terroristen verschleppten Menschen an, von denen nach wie vor 48 seit nunmehr 712 Tagen in Gaza festgehalten werden. Noch immer befänden sich auch deutsche Geiseln in den Händen der Terroristen. »Ihr Leid ist unerträglich und wir werden nicht müde, ihre sofortige und bedingungslose Freilassung zu fordern«, so der Zentralratspräsident.
Dann übte Josef Schuster Kritik am Kurs der Bundesregierung: »Auch Deutschland darf in dieser Frage nicht schwanken. Solidarität mit Israel darf nicht relativiert werden. Sie ist keine außenpolitische Option, sondern immer wieder betonter Teil der Staatsräson. In den letzten Monaten hörte man immer wieder, dass Freunde zueinander ehrlich sein müssen. Nun sollten wir vor lauter Ehrlichkeit aber nicht die Freundschaft und gemeinsamen Werte aus dem Auge verlieren.«
Keine Regierungsräson
Nicht alle Entscheidungen der Regierung Netanjahu seien nachvollziehbar. Dies dürfe aber niemals die Rechtfertigung dafür sein, »dass wir uns als Bundesrepublik Deutschland von Israel abwenden oder die Unterstützung reduzieren«, sagte Schuster, der auch dafür viel Applaus bekam. »Aus gutem Grunde heißt es Staatsräson und nicht Regierungsräson. Deutschland muss für die Sicherheit Israels einstehen. Unabhängig davon, wie der Regierungschef heißt.«
Friedrich Merz hob in seiner Rede die Bedeutung des Zentralrates hervor: »Die Bundesrepublik wäre für immer entwurzelt gewesen ohne jüdisches Leben, ohne jüdische Kultur in unserem Land«, so der Bundeskanzler. »Und wenn wir darum heute 75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland feiern, dann feiern wir auch das Geschenk, dass Jüdinnen und Juden hier wieder Heimat gefunden haben. Trotz aller Widrigkeit, und obwohl der Antisemitismus nie fort war aus Deutschland.«
Seit dem barbarischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 werde der Judenhass fast jeden Tag wieder lauter, offener und unverschämter. »Ich möchte Ihnen sagen, wie mich und uns dies entsetzt und wie sehr uns das beschämt«, sagte Merz. Als Beispiel nannte er die Absage eines Konzertes der Münchner Philharmoniker und deren israelischem Dirigenten Lahav Shani durch ein Festival im benachbarten Belgien.
Täter-Opfer-Umkehr
»Israelkritik und die krudeste Täter-Opfer-Umkehr sind immer öfter ein Vorwand, unter dem das Gift des Antisemitismus verbreitet wird«, erklärte Merz. Dann schien er den von ihm umgesetzten teilweisen Waffenexport-Stopp gegen Israel zu verteidigen: »Eine Kritik an der Politik der israelischen Regierung muss möglich sein. Sie kann sogar nötig sein.«
»Sie wissen, dass auch ich zuletzt Kritik geübt habe. Aber unser Land nimmt an der eigenen Seele Schaden, wenn solche Kritik zum Vorwand für Judenhass wird. Oder wenn sie gar zur Forderung führt, dass sich die Bundesrepublik von Israel abwenden sollte.« Trotz seines Waffenembargos betonte Merz: »Das deutsche Bekenntnis zur Existenz und zur Sicherheit des Staates Israel ist unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unseres Landes.«
Anlässlich des Jubiläums äußerte sich auch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) : »Wenn mir Jüdinnen und Juden berichten, dass sie sich in unserem Land nicht mehr sicher fühlen, dann zeigt das: Wir sind wieder an dem Punkt, an dem jüdisches Leben hier wieder bedroht ist.« Er fügte hinzu: »Das ist beschämend, und es verpflichtet uns.«
Das Vertrauen, das Jüdinnen und Juden dem deutschen Staat geschenkt hätten, müsse zurückgewonnen werden, so Weimer. Dies könne geschehen, »indem wir Antisemitismus bekämpfen und uns entschieden hinter unsere jüdischen Bürger stellen«.
Nach dem 2. Weltkrieg lebten 15.000 Juden in Deutschland
Der Zentralrat der Juden wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet, fünf Jahre nach der Befreiung. An der konstituierenden Sitzung nahmen Vertreter der jüdischen Gemeinden teil, von denen 51 schon 1945 gegründet worden waren. Damals lebten 15.000 Juden in Deutschland.
Diese Zahl wuchs durch Remigranten, die nach und nach aus dem Exil zurückkehrten. Heute gibt es auch aufgrund der Einwanderung russischer und anderer osteuropäischer Juden bis zu 200.000 Vertreter der jüdischen Minderheit in Deutschland, von deren etwa die Hälfte in 105 Gemeinden organisiert sind.
Anfangs war der Zentralrat eine Interessenvertretung für Juden, die sich entweder von Deutschland aus auf eine Migration nach Israel vorbereiteten oder solche, für die die junge Bundesrepublik zur Zwischenstation auf dem dorthin wurde. Seither hat sich die Organisation erheblich vergrößert und weiterentwickelt.
Heute ist der Zentralrat die politische und religiöse Repräsentanz der jüdischen Gemeinschaft. Als Dachorganisation ist er für Förderung zuständig – etwa von jungen Führungspersönlichkeiten –, für den Schutz jüdischer Einrichtungen sowie für Expertise, die Juden in Deutschland zugutekommt.
Gesellschaft und Politik
Auch der Dialog mit anderen Minderheiten, aber auch der deutschen Gesellschaft und der Politik sind Sache des Zentralrates der Juden. Zu den wichtigsten Projekten gehören Meet a Jew und Schalom Aleikum. Hier geht es um Austausch mit Schülern, beziehungsweise mit muslimischen Berufstätigen.
Der Kampf gegen den Judenhass war bereits lange vor dem 7. Oktober 2023 eine Aufgabe, der sich Präsident Josef Schuster, Geschäftsführer Daniel Botmann und ihre Vorgänger widmen mussten. Mit den Massakern des palästinensischen Terrors an diesem Tag wurde es schlimmer. »Jüdinnen und Juden in Deutschland sind bedroht«, schrieb der Zentralrat in seinem gerade veröffentlichten Tätigkeitsbericht für 2024.
»Es hat sich eine Querfront von links bis rechts, von einem muslimisch-islamistischen Milieu bis in die Mitte der Gesellschaft gebildet, die die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens der Gegenwart sowie unserer Erinnerungskultur infrage stellt«, heißt es in dem Dokument.