Dass Juden immer unterwegs seien, ist ein alter, mittlerweile leicht angestaubter Topos. Auch in dem Titel »Eine Autobahn oder viele Sackgassen?«, mit dem die Veranstaltung über »Ausblicke auf die religiöse Gegenwart des Judentums« im Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt überschrieben war, wird er wieder aufgenommen.
Alfred Bodenheimer, Professor für jüdische Literatur und Religionsgeschichte in Basel, vermittelte in seinem Vortrag einen Überblick über die Vielfalt religiöser Ausprägungen im Judentum Europas und Israels. Zwar, so formulierte es der 51-jährige Literaturwissenschaftler zugespitzt, »leben wir heute in Verhältnissen, die unsere Vorfahren noch als messianisch bezeichnet hätten«, dennoch wolle keine rechte Freude aufkommen.
Brit Mila Ein besonders grelles Schlaglicht auf die aktuelle jüdische Befindlichkeit wurde für ihn durch die Beschneidungsdebatte vor vier Jahren geworfen. So hätten es die Juden damals als Einschränkung des Grundrechts auf freie Religionsausübung empfunden, dass man ihnen von außen moralisch nahelegen wollte, die jahrtausendealte Tradition der Brit Mila abzuschaffen.
Dass diese Zumutung sich ausgerechnet im Gewande universeller Kinderrechte präsentierte, habe das Dilemma noch vergrößert, denn in den vergangenen Epochen hatte sich die jüdische Minorität von fortschrittlichen Strömungen hin zu einer säkularisierten, liberalen Gesellschaft stets eine Verbesserung der eigenen Situation erhofft. Und genau diese progressiven Tendenzen, die auch sie verfochten, richteten sich nun plötzlich gegen die Juden selbst.
So konstatierte Bodenheimer einen inneren Widerspruch in vielen jüdischen Seelen: Der in der westlichen Zivilisation allgemein deutlich spürbare Drang zu einer immer stärkeren Individualisierung des Lebenszuschnitts und der Lebensgestaltung wecke gleichzeitig auch ein Bedürfnis nach Kohärenz, den Wunsch, mit Gleichgesinnten nach übereinstimmenden Regeln und Überzeugungen zu leben. »Das ist die Kehrseite der Geschichte: Uns liegt eben doch mehr am Fortbestand unserer Gemeinschaft, als wir bislang dachten.«
Israel Doch wohin sich wenden, auf dieser Suche nach Zugehörigkeit? Zwar gebe es die vielen verschiedenen Denominationen innerhalb des Judentums, doch findet mancher trotz dieses vielfältigen Angebots für sich keine spirituelle Heimat. Viele junge Juden ziehe es daher nach Israel, weil sie dort mit größerer Selbstverständlichkeit das sein könnten, was sie sind, und sich nicht ständig als Angehörige einer Minderheit in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft auf ihre Besonderheit besinnen müssten.
Genau in dieser permanenten Distanzierung zur Umgebung sah auch Hanna Liss, Professorin für Jüdische Studien an der Universität Heidelberg und Gesprächspartnerin Bodenheimers auf dem Podium, ein Problem: »Immer heißt es, Judentum ist dort, wo wir eine Grenze ziehen. Unsere Kinder wachsen mit dem Eindruck auf, dass sie das, was die anderen machen, nicht tun dürfen, weil sie Juden sind.« Daher müsse man sich endlich mehr darauf besinnen, »was wir sind, statt immer nur zu definieren, was wir nicht sind. Wir haben der Gesellschaft etwas zu geben!«, zeigte sie sich überzeugt.
Wie auch schon in vielen anderen Diskussionen zuvor wurde erneut von allen Seiten betont, wie wichtig es ist, die Jugend, die nachwachsende, mittlerweile vierte Generation nach der Schoa, im Judentum zu unterweisen und ihr dessen unendlichen Reichtum an Wissen, Weisheit, Geschichte und Geschichten zu vermitteln. Denn kaum eine andere Religion sei in ihrem Selbstverständnis so transgenerationell konzipiert wie das Judentum, so Hanna Liss. Schließlich gilt immer noch der Ausspruch: »Wenn deine Enkel noch jüdisch leben, hast du bei der Erziehung deiner Kinder alles richtig gemacht.«
Minhagim Aber diese Weitergabe der Tradition bedeute »viel Arbeit und erfordert große Konzentration«, so Liss – eine Erfahrung von Ernsthaftigkeit und Anstrengung, die vielen Jugendlichen heute fremd sei. Sie warnte außerdem davor, die Vielfalt lokaler Traditionen und ortsgebundener Minhagim zugunsten der abstrakten Idee eines europäischen Judentums zu vernachlässigen.
Schließlich war es der Frankfurter Autorin Petra Kunik überlassen, unbeabsichtigt das Schlusswort an diesem Abend zu formulieren. Ihr sei nicht bange um die Zukunft des Judentums, betonte die 70-Jährige. Als Jugendliche habe sie Judentum nur »als Folklore« gekannt. »Mit 13 oder 14 hätte ich nie zu hoffen gewagt, dass wir uns einmal in einer so vielstimmigen Debatte über die Zukunft unserer jüdischen Gemeinschaft auseinandersetzen würden.«