Begegnung

Yotams Haus

»And I wonder/When I sing along with you/If everything could ever be this real forever/If anything could ever be this good again«, die Lyrics von »Everlong« der Foo Fighters schallen durch den Raum. Ein paar Köpfe nicken, ein paar Füße wippen im Takt auf dem Boden. Nur Tuval schaut weg, er trinkt einen Schluck Wasser und blickt in die andere Ecke der Fabriketage, während dieser Song zu Bildern seines Bruders läuft. Yotam beim Wacken Open Air, Yotam mit einer Katze im Arm, Yotam am Schlagzeug. Der rothaarige schmale Yotam mit den sanften Augen und dem scheuen, warmen Lächeln.

Yotam wurde am 7. Oktober 2023 aus seinem Zuhause in Kfar Aza von Hamas-Terroristen entführt, er wurde nach Gaza verschleppt, dort mit anderen Israelis und Thailändern als Geisel gehalten, gemeinsam mit zwei weiteren jungen Männern gelang es Yotam, sich zu befreien. Am 15. Dezember 2023 wurden diese drei irrtümlich vom israelischen Militär erschossen. Yotam, der Mutige, der Starke, der die Kraft aufbrachte, sich zu befreien. Partisan wird sein älterer Bruder Tuval ihn nennen. Jemand, der aufstand, der nicht liegen blieb. Dieses Wort, Partisan, sollte Tuval über den Moment hinweghelfen, den er in der Fabriketage in Berlin den Zuhörern der Veranstaltung »Resilience Through Music« erzählt und bei dem statt Kopfnicken und Im-Takt-Sein nur Tränen zu sehen sind.

Er ahnte, dass es schlechte Nachrichten sein müssen

Es war der letzte Tag von Chanukka, und als Tuval die Stimme seiner Mutter Iris am Telefon hörte, die ihn bat zu kommen, ahnte er, dass es schlechte Nachrichten sein müssen. Er machte sich auf den Weg zu seiner Familie, und was er dann von außen durch die Scheibe sah – eine Betreuerin der Armee, einen Sanitäter –, ließ in ihm die schlimmsten Gedanken aufkommen. »Es war der dunkelste Tag«, erinnert sich Tuval. Die Nachricht, dass Yotam tot war, und die Art, wie er gestorben war, waren unbegreiflich. »Wie«, fragt Tuval, »konnten sie ihn für einen Terroristen halten? Ihn, mit roten Haaren und den blauen Augen?« Er wird diese Frage oft wiederholen. Sie wird ihn nicht loslassen.

Yotam, der Ruhige, der Besondere, der Geheimnisvolle. Er kam am 2. Januar 1995 zur Welt. Im Kibbuz Gvulot, einem Ort zwischen Beer Sheva und der Grenze zu Ägypten. Er hatte einen nicht ganz leichten Start, musste wegen einer chronischen Darmerkrankung oft operiert werden, erzählt Tuval, der zwei Jahre älter ist.

Sein jüngerer Bruder war in der Kibbuz-Kindergruppe, ging auf eine Schule, versuchte, in das Schulsystem zu passen, aber es war zu eng für Yotam, den Klugen und Feinfühligen, den Neugierigen, der mit neun Jahren anfing – wie sein älterer Bruder –, Schlagzeug zu spielen. Der auf eine andere Schule wechselte, Ängste überwand und die Musik immer mehr für sich entdeckte, in ihr aufging. Sich von ihr tragen ließ. Wie beim Wacken Open Air, zu dem Yotam mit seinem Bruder, fünf anderen Freunden und zwei Müttern fuhr. Ein Geschenk zur Barmizwa.

»Ich drehte mich nach ihm um, denn er war plötzlich weg«, erinnert sich Tuval an den Abend beim Iron-Maiden-Konzert. »Plötzlich sah ich ihn zu einem Song Crowdsurfen.« Die absolute Freiheit für wenige Minuten. Noch heute höre ihre Mutter die Songs von Iron Maiden. Diese Freiheit nahm er mit in den Alltag, der ihm manchmal zu schwer wurde.

Der rothaarige, schmale Yotam mit seinen sanften blauen Augen.

Alles würde gut werden, sagt Tuval, davon war Yotam überzeugt, wenn er zur Armee gehen würde, wie jeder Israeli. Doch nach wenigen Wochen wurde er wieder nach Hause geschickt. Ein Schock für den jungen Mann, der mit dieser Entscheidung zu kämpfen hatte. Aber er fand wieder zu sich zurück, jobbte in einem Sushi-Restaurant in Sderot, ging ins Fitness-Studio, spielte in einer Band »Persephore«, die am 7. Oktober 2023 beim Sychworld Metal Festival in Tel Aviv auftreten sollte.

Yotam hält den Morgen des 7. Oktober in kleinen Storys fest

Eine Instagram-Story von Yotam: wenn der Tag so anfängt anstelle mit einem Konzert. So, das waren Raketen. Das Konzert: abgesagt. Yotam hält den Morgen des 7. Oktober in kleinen Storys fest. Er am Schlagzeug, am Plattenteller, in seinem Zuhause. Dann zeigt Tuval dem Publikum nur noch Screenshots von Nachrichten: »Wo sind sie?«, »Wir lieben dich«, »Ich bin im MaMaD«.

Und später: eine Aufnahme aus großer Entfernung. Yotam, wie er in Richtung eines Autos im Laufen geschubst wird. Der blasse Körper, die roten Haare sind wie ein Strich, bis er in dem Auto verschwindet und es losfährt. »Es war für uns wie ein Puzzle«, sagt Tuval, »denn wir wussten nicht, wo er war.« Niemand wusste etwas. Niemand sagte etwas. »Aber wir nahmen jedes Zeichen als etwas Positives.« Die letzte Ortung von Yotams Telefon, die ersten Nachrichten der freigelassenen Geiseln, die erzählten, dass er bei ihnen war, dass er mit leeren Behältern und Stöcken Schlagzeug spielte – irgendwo unter und in Gaza.

Alles war für die Familie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Schnell entstanden Seiten in den sozialen Medien für die Entführten. »Bring Yotam Back«, hieß eine von ihnen. Netta Barzilai, mit der Tuval unter anderem Musik machte, kam zu einer Jamsession und sang für Yotam. »Dieser ›Jam Prayer‹ ist mir nicht leichtgefallen, ich musste mich dazu überwinden.« Für Yotam spielte er »Everlong«, taggte die Foo Fighters.

Clicks und Streams bei Spotify

Die deutsche Punk-Band ZSK sah die Seite, die für den jungen Schlagzeuger erstellt wurde, und rief ihre Follower auf, der Band bei Spotify Clicks und Streams zu besorgen. »Wir haben eine Instagram-Story erstellt, die etwas über Yotam erzählt und berichtet, dass er von der Hamas entführt wurde. Die hat sich dann total verselbstständigt«, erzählte Joshi, der Sänger von ZSK, damals im Interview mit der »Jüdischen Allgemeinen«.

Iris und Tuval Haim, die Familienangehörigen, reisten nach London, nach Australien, in die USA, sie waren unterwegs, damit Yotam und alle Geiseln nicht in Vergessenheit geraten. In London fand Tuval ein Geschenk für Yotam: einen Phönix. Nach all dem, was er von bereits befreiten Geiseln gehört hatte, wusste er, dass sich sein Bruder wie ein Phönix erheben würde. Er würde sich befreien. Er schaffte es.

»Wie«, fragt Tuval, »konnten sie ihn für einen Terroristen halten? Ihn, mit roten Haaren und den blauen Augen?«. Diese Frage wird ihn nicht loslassen. Bei Yotams Begräbnis spielte sein älterer Bruder Schlagzeug. Danach, war er sich sicher, würde er nie wieder spielen.

»Warte ab«, sagte sein Vater. Es sollte viele Träume über Yotam brauchen, bis sich Tuval wieder ans Schlagzeug setzte. Gemeinsam mit dem israelischen Sänger Berry Sakharof und seiner eigenen Band Pulkes nahm er einen Song namens »Wings of Spirit« auf. Die Familie will mit dem »Beit Yotam« einen Ort schaffen, an dem sich Kinder und Jugendliche zusammenfinden können. Das Logo zeigt eine Zeichnung von Yotam, zwei Drumsticks, seine roten Haare. Rot wie der Phönix, der nicht am Boden blieb, sondern aufstieg.

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