Porträt der Woche

»Wir sind noch am Anfang«

Rebecca Ajnwojner ist Dramaturgin und kämpft gegen jedwede Diskriminierung

von Maria Ugoljew  18.10.2020 08:04 Uhr

»Das kritische Reflektieren gehört für mich zur jüdischen Kultur«: Rebecca Ajnwojner lebt in Berlin. Foto: Maria Ugoljew

Rebecca Ajnwojner ist Dramaturgin und kämpft gegen jedwede Diskriminierung

von Maria Ugoljew  18.10.2020 08:04 Uhr

Wissen Sie, ich unterscheide nicht gern zwischen Rassismus und Antisemitismus. Beides sind Formen der Diskriminierung. Beides hat in Deutschland eine lange Geschichte. Wenn ich darüber rede, spreche ich nicht von einzelnen Anfeindungen auf der Straße. Ich rede über ein strukturelles Problem in diesem Land, das bis heute existiert.

Derzeit ist es zwar en vogue, sich mit Diskriminierungsfragen zu beschäftigen – aber die Form lässt mich manchmal verzweifeln. In den Diskussionen wird stets unterschieden zwischen Antisemitismus und Rassismus, stets wird die eine Art der Diskriminierung mit der anderen verglichen.

Ich könnte wahnsinnig werden – merkt denn die allgemeine Öffentlichkeit nicht, dass sie dadurch erneut diskriminiert? Wir reden über Individuen, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Es gibt eben Menschen, viele Menschen, die bis heute in Deutschland nicht dieselben Chancen haben.

LEBENSAUFGABE Vielmehr werden die Betroffenen in einzelne Gruppen unterteilt, dadurch werden sie gegeneinander ausgespielt. An die Wurzel des Problems kommen wir dadurch erst gar nicht heran. Andererseits ist es natürlich gut und auch ein Fortschritt, dass wir darüber reden.

Trotzdem: Wir befinden uns noch ganz am Anfang. Ich hoffe sehr, dass mein Kampf gegen Diskriminierung nicht zu meiner Lebensaufgabe wird. Ich bin jetzt 29 Jahre alt. Ich hoffe, wir packen das eher. Da möchte ich optimistisch bleiben.

Ich bekomme schnell das Label der »schwarzen Jüdin« verpasst. Diese Vereinfachung finde ich gefährlich.

Ich analysiere die Problematik seit vielen Jahren. Wer diskriminiert wen in welchem Kontext aus welcher Position heraus? Welche Machtverhältnisse liegen dem zugrunde? Diese Fragen beleuchte ich auch in meiner Dissertation, die ich derzeit schreibe.

Beispiele hole ich mir dabei aus dem Theater. Wie werden Roma und Juden auf der Bühne dargestellt? Welche Annahmen liegen den Figuren zugrunde? Was heißt es, eine Identität auf der Bühne zu repräsentieren? Geht das überhaupt?

FRANKFURT Nach meinem Master, den ich vor vier Jahren in Dramaturgie und Regie abgeschlossen habe, hatte ich den Wunsch, erst einmal praktisch zu arbeiten. Die letzten vier Jahre war ich Dramaturgin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Ich stehe mit meinen Kolleginnen und Kollegen noch immer in Kontakt, kümmere mich jetzt aber verstärkt um meine Dissertation. In mindestens zwei Jahren möchte ich sie fertig haben.

Ich komme aus Frankfurt am Main, dort bin ich mit meinen beiden Schwestern aufgewachsen. Meine Eltern sind ebenfalls in Frankfurt sozialisiert. Meine Mutter kam als Kind aus Stuttgart nach Frankfurt, mein Vater kam im DP-Lager Föhrenwald auf die Welt. Die Verfolgung meiner Großeltern durch die Nazis und deren Diskriminierung hat nicht nur sie geprägt, sondern auch mich.

In Frankfurt habe ich den jüdischen Kindergarten und die jüdische Grundschule besucht. Meinen Eltern war es wichtig, dass meine Schwestern und ich jüdisch erzogen werden. Bis heute bin ich der dortigen Gemeinde sehr verbunden.

SUCHTFORSCHUNG Nach meinem Abitur bin ich nach Heidelberg gezogen, um Psychologie zu studieren. Ich habe den Bachelor dort absolviert und war in der Suchtforschung tätig.

Dass es im Leben wichtig ist, sich zu engagieren – das habe ich von meinen Eltern gelernt.

Ich fand es total interessant, mit den Patientinnen und Patienten zu arbeiten, mich mit ihren Biografien zu beschäftigen und ihre Sprache zu verstehen. Welche Bedingungen haben sie dazu gebracht, süchtig zu werden? Diese Frage zu beantworten, war das therapeutische Ziel.

Nebenher hat mich das Theater stets begleitet. Ich habe mir einerseits sehr viel angeguckt, andererseits auch erste dramaturgische Stücke geschrieben. Der Einstieg ins Theater erfolgte bei mir als Schülerin übers Spielen.

Nach meinem Psychologie-Exkurs kam der Entschluss: Ich will ans Theater. Viele denken, dass Psychologie und Dramaturgie beziehungsweise Regie nichts miteinander zu tun haben. Das sehe ich anders. Warum handeln Menschen, wie sie handeln? Warum fühlen sie so, wie sie fühlen? Warum entscheiden sie sich so, wie sie sich entscheiden? Das sind Fragen, die in beiden Feldern eine Rolle spielen.

BLASE Psychologie beschäftigt sich mit dem Menschen aus einer individuell-therapeutischen Sicht, im Theater wird er hingegen künstlerisch-aktivistisch beleuchtet. Auf beiden Gebieten kann ich eine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.

Dass es im Leben wichtig ist, sich zu engagieren und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie man sich in einer Gesellschaft positionieren möchte – das habe ich von meinen Eltern gelernt. Meine Mutter ist Ärztin und Familientherapeutin, mein Vater ist Physiker.

Coronavirus wirkt sich auf alles aus. Nicht jeder kann darüber reflektieren, hält die Komplexität aus.

Das kritische Reflektieren gehört für mich zur jüdischen Kultur. Durch den Nationalsozialismus wurde diese Denktradition aus Deutschland vertrieben. Entweder, weil die Menschen ermordet wurden, oder weil sie geflohen sind. Es gibt bei mir einen Drang, daran wieder anzuknüpfen und mich mit verloren gegangenem Wissen auseinanderzusetzen, Wissen, das durch politische Entscheidungen und Kriege verschwunden ist.

ALLIANZEN Die Vergangenheit wirkt bis heute nach. Ich möchte den Finger in die Wunde legen und fragen: Was wird erzählt? Welche Narrative haben überlebt? Wer ist laut und wird gehört? Und wer wird eben nicht gehört? Dabei betrachte ich auch die Medienlandschaft in Deutschland kritisch.

Ich bekomme schnell das Label der »schwarzen Jüdin« verpasst. Diese Vereinfachung finde ich gefährlich. Ich mache mir wirklich Sorgen darüber, dass man bei diesem Label bleibt und dass dadurch das Individuelle eines Menschen keine Rolle spielt.

Wie Sie sehen, dieses Thema ist einfach sehr komplex. Und nicht nur Deutschland hat ein Diskriminierungsproblem. Es ist ein globales Phänomen. Es gibt kein Land, in dem alles gut ist, in dem echte Gleichberechtigung existiert. Während meines Dramaturgie- und Regiestudiums habe ich ein Jahr in Tel Aviv verbracht. Die Stadt ist toll: Ich habe sie als jung, lebendig und vielfältig erlebt wie Berlin. Aber es ist eben eine Blase. Auch Israel hat ein Rassismusproblem.

Wir haben noch so viel zu tun. Wir müssen untereinander Allianzen schmieden, zusammen streiten und denken, Perspektiven herausfordern und die Leute aus ihren bequemen Sitzen holen. Allein kommt man nicht weiter. Im Theater sagt man immer: Theater macht man nicht allein, das funktioniert nur im Team, im Austausch.

UNPLANBARKEIT Wir leben heute in einer Umbruchszeit. Das Coronavirus wirkt sich auf alles aus, und eben nicht nur auf die Gesundheit. Wir haben es mit einer Ohnmachtserfahrung zu tun. Angst, Einschränkung der Freiheit und Unplanbarkeit machen etwas mit dem Menschen. Wie geht man mit dieser außergewöhnlichen Erfahrung um? Nicht jeder kann darüber reflektieren, hält die Komplexität aus. Die Zunahme von Verschwörungstheorien ist deshalb kein Wunder.

Die Corona-Krise macht deutlich, wie unterschiedlich die Gesellschaft ist. Dass wir also ein Problem haben, ein systemisches, das muss jetzt eigentlich jeder anerkennen, der bei Sinnen ist.

Für mich war das Leben schon immer vielfältig und politisch.

Ich denke viel über meine Rolle im Leben nach. Ich bin mir dabei dessen bewusst, dass ich die Welt aus einer spezifischen Perspektive heraus wahrnehme. In Frankfurt bin ich in einer diversen Gemeinschaft aufgewachsen, ich musste mich mit vielem nicht auseinandersetzen.

Für mich war das Leben schon immer vielfältig und politisch. Ich beherrsche fünf Sprachen: Deutsch, Englisch, Hebräisch, Französisch und Jiddisch. Ich bin von klein auf viel gereist – in Israel leben etliche Verwandte. Dass das eine Blase ist, in der ich mich bewege, habe ich in Heidelberg verstanden. Dort bin ich erstmals auf eine elitäre, homogene Realität gestoßen.

NEUKÖLLN In Berlin bin ich mit vielen jüdischen und nichtjüdischen Künstlerinnen und Künstlern vernetzt. Ich genieße die Vielfalt in der Stadt. Wobei – die Stadt als solche kenne ich nicht. Jeder Kiez hat seinen eigenen Charakter. Ich wohne in einer WG in Neukölln. Die Fraenkelufer-Synagoge ist nicht weit von mir entfernt – die Gemeinde dort mag ich sehr. Sie ist international, jung und offen.

Ich wünsche mir, dass jeder Mensch an dieser Vielfalt des Lebens teilhaben kann – gleichzeitig weiß ich, dass wir davon noch sehr weit entfernt sind. Aber Resignation bringt nichts. Ich denke, es gibt nur einen Weg: dafür zu kämpfen, damit die Zukunft eine andere wird als die Gegenwart.

Aufgezeichnet von Maria Ugoljew

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