Nürnberg

»Wir schaffen das«: Alltag im Seniorenheim

Das Adolf-Hamburger-Heim in Nürnberg Foto: privat

»Black Box« nennt Wolfgang Brockhaus in Coronozeiten das Adolf-Hamburger-Heim in Nürnberg. Keine Spaziergänge mehr außerhalb des Hauses, kein Zusammensitzen und Musikhören, keine gemeinsamen Mahlzeiten, und dazu das »grundsätzliche Besuchsverbot«. In den 20 Jahren, die der gelernte Banker »diesen Job« macht, hat er eine solche Ausnahmesituation noch nie erlebt. »Es tut uns im Herzen weh«, bekennt Brockhaus.

Mit »wir« meint er seine Mitarbeiter, die Pflegekräfte und Verwaltungsangestellten, aber auch die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Träger des 1984 eröffneten Heimes für 90 Bewohner. »Die Diagnose Demenz ist unser Kernthema«, sagt Brockhaus. Und multimorbide, bettlägerige Bewohner.

Beeinträchtigungen »Wie unterbindet man in diesen Zeiten, dass total mobile, aber ihrer kognitiven Einschränkungen nicht gerade einsichtige alte Menschen in ein anderes Zimmer als das eigene gehen, um dort die Bettlägerige abzubusseln«, fragt er sich.

»Und wie soll das gehen, einen bedürftigen Menschen zu waschen, zu pflegen, bei den Mahlzeiten zu unterstützen, wenn aus Übertragungsgründen der Abstand von Mensch zu Mensch eineinhalb Meter sein soll?« Es sei schon »irre«. Abgesehen davon, dass Heime nun auch noch aus Kliniken Patienten aufnehmen sollen, die zu Hause nicht zurechtkommen.

Selbst die Deutsche Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz hat eine solche Krise noch nie erlebt.

Selbst die Deutsche Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz – mit Problemen im Umgang mit dementen Menschen nicht unerfahren – gesteht in ihren »Aktuellen Informationen zum Umgang in Zeiten von Corona«, eine solche Krise noch nie erlebt zu haben.

Langzeitstudie In einer Langzeitstudie aus Amerika haben Wissenschaftler der Florida State University festgestellt: »Wer sich im Alter einsam oder isoliert fühlt, erkrankt eher an Demenz.« Mehr als zehn Jahre lang wurden 12.000 Probanden im Alter von über 50 Jahren regelmäßig befragt. Fazit: 1104 Teilnehmer der Studie erkrankten an Demenz. Und es waren die, die sich besonders einsam fühlten, selbst, wenn sie in ihren Familien verblieben und nicht allein lebten.

»Wenn nur einer der Bewohner Symptome von Corona zeigt, müssen wir die Doppelzimmerbelegungen aufheben.« Wolfgang Brockhaus

Was aber geschieht dann mit Menschen, die schon an einer der vielfältigen Formen von Demenz leiden? Die zum Beispiel im Adolf-Hamburger-Heim in Zweibettzimmern bisher bestens aufgehoben waren, weil sie dort Ansprache hatten? »Wenn nur einer dieser Bewohner Symptome von Corona zeigt, müssen wir die Doppelzimmerbelegungen aufheben, das kann jede Stunde passieren«, sagt Brockhaus.

Nach ersten Stunden »voller Dynamik« habe das Krisenmanagement »in atemberaubendem Tempo« gegriffen, sagt der Einrichtungsleiter. Inzwischen seien die Mitglieder der Freien Wohlfahrtsverbände gut vernetzt und tauschen sich untereinander aus.

Erleichtert waren die Wohlfahrtsverbände auch über die Einbeziehung ihrer Einrichtungen unter den finanziellen Corona-Schutzschirm der Bundesregierung. Brockhaus lobt zudem auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). »Doch auch die Mitarbeiter haben spirituelle Bedürfnisse«, sagt der 58-Jährige.

Schabbatfeier Das Adolf-Hamburger-Heim habe ein jüdisches Profil samt koscherer Küche, nehme aber auch nichtjüdische Bewohner auf; und freilich seien nicht alle Mitarbeiter Jüdinnen und Juden. »Der Schabbat war unser Höhepunkt der Woche, angeboten wurden auch protestantische und katholische Gottesdienste«, sagt Brockhaus. Alles perdu. Nicht vorzustellen.

»Mein Terminkalender ist fast leer, aber ich habe mehr Arbeit«, bekennt er. Und es ist so still im Haus. Verwaltungsmitarbeiter wurden ins Homeoffice geschickt. »Rauf und runter« hat Brockhaus wegen der Schutzkleidung für infektiöse Patienten telefoniert – falls es denn welche geben sollte.

»Wir schauen voller Sorge auf Pflegeheime, in denen es Infizierte und Tote gibt.« Täglich würden es mehr. »Es hat ein wenig gedauert, zu vermitteln, dass ein Aufzug nicht mehr zu dritt benutzt werden darf«, sagt er. Inzwischen sei es Routine.

Das Besuchsverbot könne erst gelockert werden, wenn es verbindliche, überprüfbare und nachvollziehbare Konzepte zur Verhinderung von Infektionen gibt, sagt Brockhaus.

Brockhaus will genau aufpassen, was er von seinen Mitarbeitern fordern kann, die jeweilige familiäre Situation inbegriffen. Nicht jeder ist gleich belastbar. Dass das Land Bayern am absoluten Besuchsverbot festhält, findet er »in Ordnung«.

Finanzierung »Meines Erachtens kann es erst gelockert werden, wenn verbindliche, überprüfbare, umsetzbare und nachvollziehbare Konzepte nebst Finanzierungssicherheit zur Verhinderung der Infektion-Ein- und -Verschleppung in Pflegeeinrichtungen vorliegen«, sagt Brockhaus.

Wie alles begann? Erst wurde Purim abgesagt, dann begann der Dominoeffekt. Jetzt geben Angehörige Dinge, die sie Bewohnern bringen wollen, an der Pforte ab. Die Heimsprecherin hat Angebote fürs Maskennähen gemacht. Die Kultusgemeinde brachte Päckchen zu Pessach, junge Künstler wollen sich einbringen, ein Lungenfacharzt, der Mitglied der Gemeinde ist, hat Unterstützung zugesagt. Und hoffentlich dürfen die Terrasse und der Garten weiter benutzt werden.

»Wir schaffen das, wir halten zusammen«, sagen Brockhaus und seine Mitarbeiter. Will er Optimismus verbreiten? »Muss ich das?«, fragt er zurück und scheint am Telefon zu lächeln.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024