Es war ein doppeltes Jubiläum, das beim großen Festakt in der Ohel-Jakob-Synagoge am Jakobsplatz begangen wurde: Auf den Tag genau 80 Jahre zuvor, am 15. Juli 1945, hatte die Israelitische Kultusgemeinde München im jüdischen Altersheim in der Kaulbachstraße 65 ihre konstituierende Sitzung abgehalten.
Präsident wurde der Kinderarzt Julius Spanier. Der zum Vizepräsidenten gewählte Fritz Neuland rückte später ins erste Glied auf, und 1985 wurde auch seine Tochter Charlotte Knobloch Präsidentin der Gemeinde. Über vier Jahrzehnte lang wurde sie immer wieder in diesem Amt bestätigt, und auch das gab es an diesem Tag zu feiern.
Die Feier würdigte Persönlichkeiten und Kontinuitäten, und sie warf ein Blick zurück auf die lange Tradition der heutigen IKG, darunter selbstverständlich auch auf die Zeit vor 1933, als die Gemeinde etwa 10.000 Mitglieder zählte. Wie überall in Deutschland bedeutete die nationalsozialistische Terrorherrschaft einen katastrophalen Bruch für die jüdische Gemeinschaft.
»Als die amerikanischen Truppen bei Kriegsende München erreichten, fanden sie lediglich 84 jüdische Menschen vor, die im Versteck hatten überleben können«, berichtete Philipp Lenhard, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, in seinem Festvortrag.
München bildete für einige Jahre das Zentrum der jüdischen Displaced Persons.
Der Historiker wies auf die Besonderheiten im Selbstverständnis des Gründungsvorstands hin: Bereits Julius Spanier habe nachdrücklich darauf bestanden, so Lenhard, »dass es sich nicht etwa um eine Neu-, sondern um eine Wiedergründung handele«. Spanier betonte in seiner Eingabe an die amerikanischen Militärbehörden vom 22. August 1945, die »neu aufgezogene Kultusgemeinde« vertrete »wie früher die orthodoxe Richtung«. Eine erstaunliche Formulierung, so Lenhard, hatte doch das liberale Judentum vor 1933 die wichtigste Strömung des Münchner Judentums gebildet.
Die Kontinuität der Gemeinde zu bewahren, für die der langjährige Präsident Fritz Neuland ebenso wie Charlotte Knobloch als wirkungsmächtige Persönlichkeiten stehen: Das war nach dem tiefen Einschnitt nur durch Neuerung möglich. München bildete für einige Jahre das Zentrum der Sche’erit haPleta (»Der gerettete Rest«), der Gesamtheit der jüdischen Displaced Persons. Viele der neuen Gemeindemitglieder betrachteten München zunächst lediglich als Durchgangsstation in der amerikanischen Zone, als letzten Aufenthaltsort vor der Emigration.
Das oft zitierte Bild der gebeziehungsweise ausgepackten Koffer fand dabei unter anderem bereits durch den Journalisten Moses Lustig Verwendung, der 1951 die »Münchner Jüdischen Nachrichten« gegründet hatte. Diese Formulierung war wohl unter den Überlebenden verbreitet, um ihre damals in der Schwebe befindliche Situation zu beschreiben.
Sie erhielt sich durch die Jahrzehnte, bekanntermaßen nutzte auch die heutige Präsidentin die Metapher im Hinblick auf das neue Jüdische Zentrum am Jakobsplatz, in das die Gemeinde 2006 aus der noch 1931 eröffneten Synagoge in der Reichenbachstraße in die neue Synagoge und 2007 ins neue Gemeindezentrum im buchstäblichen Herzen der Stadt umzog. All das steht für die feste Eingliederung der Gemeinde in die Stadtgesellschaft.
Ilse Aigner nannte Charlotte Knobloch eine »Mutmacherin« inmitten dieser »unerträglichen« Tatsachen.
Nach einer von Konflikten und Fluktuation geprägten Zeit in den 50er-Jahren, darunter der Justizskandal um Philipp Auerbach und den von ihm geförderten Rabbiner Aaron Ohrenstein, nach Auswanderung und Rückkehr setzte in den 60ern eine Phase der Konsolidierung ein. Es war der Terrorismus der 70er-Jahre, der sich wie ein neuer Schatten über die Gemeinde legte.
Anschläge wie auf das Gemeindezentrum in der Reichenbachstraße 1970 und auf die israelische Olympiamannschaft 1972 riefen »bei vielen Münchner Juden die Frage hervor, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, hiergeblieben zu sein«, wie Lenhard es ausdrückte. Mit der nach dem 7. Oktober 2023 merklich angestiegenen Zahl antisemitischer Vorfälle hat dieses Gefühl neuen Auftrieb bekommen.
Zugleich aber war und ist die Präsidentschaft von Charlotte Knobloch eine Erfolgsgeschichte, die die spätestens unter ihrem Vorgänger Hans Lamm begonnene Integration der Gemeinde in die Stadtgesellschaft erfolgreich bis in die Gegenwart fortführt. Dazu zählt auch die gelungene Einbindung der aus der zerfallenen Sowjetunion eingewanderten neuen Mitglieder in die Gemeinde. Mit erneut fast 10.000 Mitgliedern ist die Münchner Gemeinde heute nicht nur die größte in Deutschland, sie hat damit auch das Niveau der Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit 9004 im Jahr 1932 übertroffen.
Mehr als genug Anlässe also für einen großen Festakt mit vielen prominenten Gästen. Eigens aus Berlin angereist war unter anderem Julia Klöckner, die Präsidentin des Deutschen Bundestages. In ihrem Grußwort verdeutlichte sie mit einer Szene des Filmklassikers Der Ruf von 1949, »wie schwer der Neuanfang gewesen sein muss«: In der beschriebenen Szene erfährt der jüdische Professor Mauthner nur Irritation und Ablehnung für sein Ansinnen, nach dem Krieg wieder in Deutschland zu leben. Die Rückkehr und die Wiedergründung der Gemeinde hier in Deutschland verdiene vor diesem Hintergrund besondere Würdigung, so Klöckner. »Das ist ein Bekenntnis zu unserem Land, trotz allem.«
Der bayerische Ministerpräsident lobte die IKG-Präsidentin als »Jahrhundertfrau«.
Auch die Präsidentin des Bayerischen Landtags, Ilse Aigner, sprach von der Etablierung der Gemeinde als »unglaublichem Geschenk«. Bei aller Freude vergaß Aigner indes nicht, auf die schwierige Alltagsrealität der jüdischen Gemeinde hinzuweisen. Stets müsse sie von der Polizei geschützt werden, »seit einiger Zeit braucht sie sogar wieder mehr Schutz. Veranstaltungen brauchen ein Sicherheitskonzept, Gläubige müssen zum Gottesdienst an der Polizei vorbei, genauso wie Kinder zur Kindertagesstätte.« Aigner nannte Charlotte Knobloch eine »Mutmacherin« inmitten dieser »unerträglichen« Tatsachen – und würdigte sie pointiert als »unsere jüdische Bavaria«.
Auch der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder zollte der IKG-Präsidentin Respekt und lobte sie als »Jahrhundertfrau«. Die Kraft, die sie für ihre Aufgaben aufbringe, habe nicht jeder, betonte Söder und verwies auch auf seine persönliche Erfahrung. Eine Tugend, die der Ministerpräsident immer wieder unter jüdischen Menschen in Deutschland ebenso wie in Israel bemerkt habe, sei der stete »Optimismus, nicht einfach aufzugeben, sondern neu anzufangen«.
Dieser Optimismus sei besonders angesichts des aufgeflammten Antisemitismus notwendig. Die Staatsministerin für Unterricht und Kultus, Anna Stolz, unterstrich ebenfalls vor diesem Hintergrund der Antisemitismusbekämpfung, dass »wir keinen Millimeter von unseren Werten abrücken«.
»Die jüdische Gemeinde hat gerade nicht viel zu feiern. Und doch feiern wir so gerne – es ist ein fester Bestandteil unserer Religion.«
Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Stadt München, wurde in seinem Grußwort auch ganz konkret: Nach seinen Worten plane die Stadt, im Umfeld des Jakobsplatzes eine Straße nach Fritz Neuland zu benennen. Das sei zu verstehen als »Zeichen der Würdigung seiner großen Verdienste«.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ging schließlich auf die bedeutsame Rolle der vormaligen Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch ein: »Sie wird die letzte Person sein, die den Zentralrat geführt und gleichzeitig die Schoa überlebt hat. Auch heute noch trägt sie diese Bürde des Erlebt-und-überlebt-Habens mit solcher Demut, dass die große Verantwortung für die nachfolgenden Generationen greifbar wird.« Dass jüdisches Leben nach dem Krieg in Deutschland wieder möglich geworden ist, sei undenkbar »ohne die Gemeinden, die sich in diesen dunklen Zeiten mit kaum mehr als einem Lichtschimmer am Horizont gründeten«.
Tagung des »Zentralkomitees der befreiten Juden in der US-Zone«, bei der auch der spätere Ministerpräsident David Ben-Gurion anwesend war. Israel sei so quasi in München gegründet worden, legte Prosor mit einem Augenzwinkern dar. Der amerikanische Generalkonsul James Miller betonte, dass die Vereinigten Staaten damals wie heute fest an der Seite jüdischen Lebens und des Staates Israel stünden, und verband dies mit der Forderung nach Freiheit für alle von der Hamas festgehaltenen Geiseln und der Hoffnung auf den langersehnten Frieden.
Die würdige Stimmung des Festaktes noch einmal ins dezidiert Persönliche zu wandeln, das gelang Michel Friedman mit seinem abschließenden Festvortrag. Friedman erinnerte ausführlich an die Lebensrealität der »Ghettos der jüdischen Gemeinden, die bis in die 70er-Jahre bestanden«.
Knobloch bezeichnete er als seine »Lehrerin«, die »Emanzipation, Selbstbewusstsein, Zukunft« in die jüdische Gemeinde gebracht habe. Vehement widersprach er der offiziellen Lesart der Zeit nach 1945: »Mut? Die meisten waren damals zerbrochene Menschen, sie waren hierhergespült worden.« Wären alle politischen Reden der neuen Bundesrepublik ernst gemeint gewesen, so Friedman gewohnt treffend wie scharfzüngig, »glauben Sie, die Polizei müsste heute jüdische Kinder bewachen?«
Charlotte Knobloch selbst setzte für den Abend mit einer bewegten Danksagung den Schlusspunkt und lud dabei auch zum anschließenden Empfang ins Gemeindezentrum ein: »Die jüdische Gemeinde hat gerade nicht viel zu feiern. Und doch feiern wir so gerne – es ist ein fester Bestandteil unserer Religion.« Daher gelte auch und besonders an diesem Abend: »Wir feiern das Leben!«