Alexandra, Christoph, Kelly und Oriana, ihr habt jüdische Vorfahren – doch nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, seid ihr nicht als Juden geboren. Habt ihr das je als ungerecht empfunden?
Kelly Zehe: Als ich meinen Sohn im jüdischen Gymnasium als jüdisches Kind anmelden wollte, sagte mir die Sekretärin: Nein, ihr seid keine Juden. Ich sei Vaterjüdin und mein Kind dann gar nichts mehr. Das hat mich sehr verletzt. Ich wusste zwar, dass ich halachisch nicht wirklich jüdisch bin. Aber ich dachte, das sei eine liberale Reformschule, die mein Kind als jüdisch anerkennen würde.
Oriana Löwenstein: Anders als andere patrilineare Jüdinnen und Juden hatte ich das Glück, wenn man es so nennen will, nicht in einem jüdischen Umfeld aufgewachsen zu sein, das einem die Zugehörigkeit zum Judentum absprechen könnte. Ich habe erst in meinen späten 20ern, als ich mich mehr damit beschäftigt habe, gemerkt, dass das tatsächlich in fast allen Gemeinden in Deutschland ein Thema ist. Und dann habe auch ich manchmal Sprüche von Freunden zu hören bekommen, die ich nicht so schön fand.
Christoph Piorkowski: Von jüdischen Freunden?
Oriana: Ja. Hinter diesen Sprüchen stand aber keine böse Absicht. Zum Beispiel wurde ich einmal gefragt, was »wir« eigentlich an Pfingsten feiern. Dabei weiß ich gar nicht, was an Pfingsten gefeiert wird. Ein anderes Mal wurden mir »jüdische Gene« abgesprochen. Doch selbst hier denke ich nicht, dass man mich damit verletzen wollte. Ich glaube, dass sich die Perspektive derjenigen, die eine jüdische Mutter haben, stark von der von Vaterjüdinnen und -juden unterscheidet.
Christoph: Weil ich mich selbst nie als Jude bezeichnet habe, konnte ich bisher auch nicht zurückgestoßen werden. Sauer werde ich trotzdem, wenn jemand wie Deborah Feldman behauptet, in Deutschland würden viele Menschen irgendeinen jüdischen Großvater herbeizaubern, um sich ein Opfernarrativ anmaßen zu können. Sie hat offenbar keine Ahnung, wie es ist, in Deutschland aufzuwachsen, wenn andere dich als Jude betrachten, selbst wenn man halachisch gesehen kein Jude ist. Ich denke immer wieder darüber nach, was es mit dem jüdischen Kollektiv auf sich hat. Ist es eine Religion, eine Nation, eine Verfolgungsgemeinschaft oder doch mehr als all das? Und wie passe ich dort hinein?
Alexandra Perlowa: Diese Zweifel sind keine universelle Erfahrung. In den USA wird zum Beispiel ganz anders mit dem Jüdischsein umgegangen. Dort spielt es eine viel kleinere Rolle, ob die Mutter oder »nur« der Vater jüdisch ist. Da ist es schon besonders ungerecht, dass wir ausgerechnet im Täterland Deutschland einen doppelten Ausschluss erfahren müssen, als patrilineare Jüdinnen und Juden einerseits, als Betroffene von Antisemitismus andererseits.
»Ich bin zu jüdisch, um mich in Deutschland vollends heimisch zu fühlen, aber zu deutsch, um ein Jude zu sein.«
christoph david piorkowski
Kelly: Ich höre von anderen patrilinearen Freunden oft diesen echt fiesen Spruch: Für die Nazis waren wir jüdisch genug, für unsere eigenen Leute sind wir es aber nicht.
Christoph: Meine Erfahrung ist ähnlich: Ich bin zu jüdisch, um mich in Deutschland vollends heimisch zu fühlen, aber gleichzeitig zu deutsch, um ein Jude zu sein. Das ist eine ganz merkwürdige Zwischenexistenz, und ich finde auch keinen Begriff dafür, außer in der doppelten Verneinung, dass ich nicht nichtjüdisch bin. Für euch ist das offenbar anders: Ihr sagt selbstbewusst, dass ihr jüdisch seid.
Christoph, du hast zwei von den Nazis wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgte Großväter. Wie hat dich das geprägt?
Christoph: In meiner Familie hat es immer eine sehr wichtige Rolle gespielt, dass es da ein jüdisches Erbe gibt. Auch ich bin mit dem Selbstverständnis aufgewachsen, irgendwie jüdisch zu sein. Das wurde aber nie mit einer positiven Bedeutung gefüllt, da eine Anbindung an die jüdische Gemeinschaft gefehlt hat. Mein persönlicher Bezugspunkt zum Judentum waren immer Antisemitismus und die Schoa. Ich muss es leider so sagen. Gleichzeitig fühle ich mich zum Judentum hingezogen. Dabei habe ich jedoch oft das Gefühl, ich eigne mir etwas an, was mir eigentlich nicht zusteht.
Warum fällt es dir so schwer, dich positiv mit dem Jüdischen in deiner Familiengeschichte zu identifizieren?
Christoph: Ich denke, das hatte zunächst auch etwas mit meinen Antisemitismus-Erfahrungen als Heranwachsender zu tun. Ich bin in den 2000er-Jahren in Berlin aufgewachsen, das war eine raue Zeit. Wenn ich zu wenig Gras in den Joint gestreut habe, war ich für meine Freunde schon mal der knauserige Jude. Einmal habe ich mich mit einem palästinensischen Kumpel gestritten, der dann meinte, man merke, dass ich »jüdisches Blut« habe. Auf diese Weise wurde mir immer mal wieder eine Form von Andersheit kommuniziert. Das hat dazu geführt, dass ich das Jüdische lange Zeit lieber unter den Teppich gekehrt habe, später hat dann ausgerechnet der Antisemitismus dazu beigetragen, dass ich mich in einer Art Empowerment stärker als jüdisch identifiziert habe. Aber die zentralen Gründe für meine relative Distanz sind die gebrochene Tradition und dass ich nie eine Anbindung an jüdische Strukturen hatte.
Alexandra, du bekennst dich sehr selbstbewusst zur jüdischen Seite deiner Familie, die aus der Ukraine stammt. Wie wurde in der Sowjetunion mit der Frage umgegangen, wer Jude ist?
Alexandra: In der Sowjetunion wurde die Zugehörigkeit zum Judentum durchaus über die Linie des Vaters weitergegeben. Im Pass meines Vaters stand, dass er Jude ist. Das wurde nicht als Religion verstanden, sondern als Nationalität. Mein Vater ist sowjetisch geprägt: Er war und ist stolz darauf, jüdisch zu sein, gleichzeitig ist er nie ein religiös praktizierender Jude gewesen. Auch meine russisch-orthodoxe Mutter hatte mit Religion nie viel am Hut. Trotzdem sind wir als jüdische Kontingentflüchtlinge 1994 nach Deutschland gekommen.
Für die meisten Gemeinden in Deutschland galtest du dann aber nicht als jüdisch genug, um Mitglied zu werden. Wie war das für dich?
Alexandra: Als Kind war das noch kein Problem: Ich konnte an den Gymnastikkursen und dem Russisch-Unterricht in der jüdischen Gemeinde teilnehmen. Auch der Freundeskreis meines Vaters war komplett jüdisch. Aber die Halacha war absolut dominant im Diskurs darüber, wer jüdisch ist und wer nicht, als es für mich darum ging, Gemeindemitglied werden zu wollen.
Oriana: Ich frage mich, wieso die Halacha für Gemeindemitglieder, von denen die meisten keinen Schabbat halten, plötzlich so wichtig wird, wenn es um die Frage geht, wer Jude ist.
Alexandra: Die Halacha hat sich als institutionalisiertes Prinzip verselbstständigt: Es braucht ein Kriterium dafür, wer Gemeindemitglied werden kann, und da bietet sich das Religionsgesetz natürlich an – egal, ob man ansonsten danach lebt oder nicht.
Oriana, deine Eltern kommen aus der ehemaligen Tschechoslowakei. Welche Rolle hat das Judentum für sie gespielt?
Oriana: Die Tschechoslowakei war, wie die Sowjetunion auch, sozialistisch, und Religion hat keine große Rolle gespielt. Mein Vater hat vor dem Ende des Kalten Krieges das Land verlassen, da er dort keine Zukunft sah. Weil er nirgendwo sonst ein Visum bekam, ist er über Wien nach Israel gegangen. Ich glaube, da ist er zum ersten Mal wirklich in Kontakt mit seiner jüdischen Identität gekommen. Später zog er nach Deutschland. Meine Mutter ist wiederum selbst patrilineare Jüdin und kam als 15-Jährige nach Berlin, weil ihr Vater eine Geschichtsprofessur an der FU bekommen hatte. Religiös war sie nie, ihr Vater wurde aber als Jude von den Nazis verfolgt.
Kelly: So viele jüdische Gene, aber als Jüdin wirst du nicht anerkannt!
Christoph: Aber man will ja auch nicht die Nürnberger Rassengesetze als Kriterium gelten lassen.
Oriana: Nach der Schoa gab es auch eine Gegenbewegung, das Judentum nicht mehr über Gene oder ethnische Zugehörigkeit zu definieren, sondern vor allem als Religion zu begreifen.
Christoph: Womit man es sich wiederum auch zu einfach macht. Denn so irrsinnig die Rassengesetze waren, hatten sie reale Folgen für alle, die von den Nazis als Juden verfolgt wurden, ob sie nun religiös waren oder nicht. Das gilt in gewissem Sinne auch heute noch: Wenn Antisemiten dich als Juden begreifen, ist es egal, wie du dich selbst definierst oder was die Halacha sagt.
Kelly: Eine Kollegin von mir hat mitbekommen, wie sehr mich der wachsende Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 beschäftigt, und gefragt, warum ich das Judentum nicht einfach ablege. Sie dachte, dann wäre alles wieder gut.
»Seit dem 7. Oktober fragen sich viele, ob ihre jüdischen Wurzeln reichen, um einen israelischen Pass zu bekommen.«
kelly zehe
Kelly, du hast einen französisch-jüdischen Vater und eine evangelisch-deutsche Mutter. Welches Erbe war für dich als Heranwachsende dominanter?
Kelly: Immer nur das vom Vater. Das Evangelische meiner Mutter habe ich abgelehnt, auch wenn sie mich taufen ließ. Als Kind wurde ich in die Kirche geschleppt und fand dort alles immer nur befremdlich. Sobald ich konnte, bin ich ausgetreten. Mit dem Judentum meines Vaters habe ich mich viel mehr identifiziert. Er war Atheist, Naturwissenschaftler, hat mir aber immer von den großen jüdischen Gelehrten der vergangenen 3000 Jahre erzählt und gesagt, wie stolz wir auf diese Geschichte sein können.
Auch wenn du dich immer als jüdisch empfunden hast, bist du vor einigen Jahren zum Judentum konvertiert.
Kelly: Das war schwer für mich. Wie kann ich zu etwas konvertieren, was ich längst bin? Dass mein Kind bei seiner Anmeldung am jüdischen Gymnasium nicht als Jude anerkannt wurde, war für mich aber der Auslöser, mich bei verschiedenen Synagogen über die Möglichkeit der Konversion zu informieren. Bei einem Reformrabbiner habe ich mich schließlich gut aufgehoben gefühlt und den anderthalbjährigen Konversionskurs besucht. Dort sollte ich Dinge lernen, die ich sowieso schon wusste. Aber was blieb mir übrig? Als ich dann die Giur-Urkunde in Händen hielt, war ich trotz allem sehr glücklich und dankbar.
Warum hast du dich für die Konversion entschieden, wenn du das eigentlich als ungerecht empfunden hast?
Kelly: Weil es dabei nicht nur um mich geht, sondern auch um meinen Sohn. Er fühlt sich als Jude, hat nur jüdische Freunde, feiert jüdische Feste. Aber halachisch war er bisher kein Jude. Durch meine Konversion wird er stärker als solcher anerkannt und ist mittlerweile an seiner Schule auch als jüdisches Kind registriert. Und noch etwas: Irgendwann muss ich begraben werden, und auf einen jüdischen Friedhof kommt man nur als ordentliches Gemeindemitglied. Ich möchte, dass meine Nachfahren zu einem jüdischen Friedhof gehen, um mir dort Steine aufs Grab zu legen.
Oriana, du hast dich vor ein paar Monaten für einen orthodoxen Übertritt entschieden. Was sind deine Beweggründe?
Oriana: Ich habe vor zwei, drei Jahren angefangen, mich mit der Tora zu beschäftigen, und gemerkt, dass darin so viel Weisheit steckt, die ich mir aneignen möchte. Bei uns zu Hause war von Gott nie die Rede. Ich hatte aber schon immer eine spirituelle Ader. Durch die Religion haben plötzlich Dinge, die in meinem Leben vorher keinen Sinn gemacht haben, dann doch zusammengepasst. Ich habe die orthodoxe Gemeinde als sehr offen erlebt, auch mir gegenüber. Es gibt für mich viele weitere Gründe, überzutreten: Ich möchte zum Beispiel irgendwann einen Juden heiraten und jüdische Kinder bekommen.
Christoph: Würdest du denn auch einen Vaterjuden heiraten? Im orthodoxen Judentum gilt der nicht als jüdisch.
Oriana: Ich möchte einen orthodoxen Juden heiraten, und wenn er vaterjüdisch ist, würde er sicher auch den Wunsch haben zu konvertieren.
Christoph: Es klingt so, als hättest du erst aus dem Wunsch heraus, jüdisch zu sein, angefangen, gläubig zu werden.
Oriana: Nein, so war es nicht. Ich habe mich vor der Entscheidung lange selbst geprüft: Will ich das nur, um akzeptiert zu werden? Finde ich mich da überhaupt in der Religion? Ist die Tora wirklich wahr? Ich habe es mir gut überlegt.
Alexandra: Ich würde mich für eine Konversion nur dann entscheiden, wenn ich eine jüdische Familie gründen will. Ich würde nicht wollen, dass meine Kinder denselben Ausschluss wie ich erleben.
Christoph, kam diese Frage jemals bei dir auf?
Christoph: Ich glaube, der einzige Grund, weswegen ich jemals einen Giur in Betracht ziehen würde, wäre, damit meine Kinder Alija machen könnten. Und zwar deshalb, weil ich mich immer öfter frage, wo man angesichts des globalen Judenhasses auf der Welt ansonsten noch leben kann.
Kelly: Seit dem 7. Oktober ist dieses Thema immer mehr in den Vordergrund gerückt. Viele fragen sich, ob ihre jüdischen Wurzeln reichen, um einen israelischen Pass zu bekommen.
Christoph: Genau. Das wird nämlich schwierig für meine Tochter Yaëli. Sie hat nur jüdische Urgroßväter und eine nichtjüdische Mutter.
Kelly: Du hast deiner Tochter einen hebräischen Namen gegeben?
Christoph: Ja, klar!
Kelly: Also identifizierst du dich doch mit dem Judentum.
Christoph: Ich empfinde eine starke Nähe.
Kelly: Und wenn deine Tochter jetzt auf die Idee käme, Batmizwa feiern zu wollen?
Christoph: Ich würde sie in allem unterstützen! Aber als Jude würde ich mich nach wie vor nicht bezeichnen. Für das, was ich bin, fehlt mir der passende Begriff.
»Ich bin überzeugt, dass wir schon jüdisch sind. Deswegen habe ich einen inneren Widerstand gegen die Idee der Konversion.«
alexandra perlowa
Alexandra: Auf Englisch kann man das viel besser sagen: »Jew-ish« – eben irgendwie jüdisch.
In den USA erkennen Reformgemeinden seit den 80er-Jahren Vaterjuden in einem sehr vereinfachten Prozess an. Sollte es das hier auch geben?
Alexandra: Eine einfache Statusanerkennung ohne Kurse oder Prüfungen wäre gut. Denn ich bin überzeugt, dass wir schon jüdisch sind. Deswegen habe ich bisher einen inneren Widerstand gegen die Idee der Konversion gehabt.
Christoph: Weil du findest, du musst das nicht beweisen?
Alexandra: Ja, genau. Ich würde es nur machen, um von bestimmten Gruppen akzeptiert zu werden. Aber das ist nicht das richtige Motiv.
Das jüdische Religionsgesetz sieht schon seit schätzungsweise 1800 Jahren vor, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Sollte man so ein altes Prinzip einfach ändern?
Oriana: Es gibt gute Gründe für dieses Prinzip: Juden mussten sicherstellen, dass die Tradition bewahrt wird. Das ist auch ein Schutzmechanismus.
Kelly: Ich finde, dass die Halacha eine Art Stützgerüst ist, und das sollte bleiben. Es hat schon einen Grund, warum es uns seit 5000 Jahren gibt. Gleichzeitig sind wir immer in Entwicklung. Daher sollten manche Ausbrüche aus diesem Gerüst erlaubt sein.
Alexandra: Wir müssen bei der Frage, ob wir dieses Prinzip jetzt kippen, auf die Fakten schauen: Deutsche Gemeinden beschweren sich über fehlenden Zulauf und Überalterung. Die wenigen jungen Juden verlieben sich in unserer gesellschaftlichen Realität eben auch in Menschen, die nicht jüdisch sind. So viele gibt es ja auch nicht mehr zur Auswahl! Will man deren Kindern allen die Tür vor der Nase zuschlagen?
Kelly: Leider endet der Ausschluss manchmal nicht mit der Konversion. Selbst nachdem ich meine Statusklärung bekommen hatte, wurde mir oft das Gefühl gegeben, ich sei nicht zu 100 Prozent Teil der Gemeinschaft.
Christoph: Weil du erst etwas dafür tun musstest.
Kelly: Ja, und die anderen kriegen es mit der Geburt geschenkt.
Alexandra: Und manche essen Schweinefleisch und halten sich an nichts! Und wir kämpfen so sehr und sind immer noch nicht Teil davon. Ich habe auch schon diesen Spruch gehört: Ich würde niemals eine Vaterjüdin heiraten, selbst wenn sie konvertiert ist.
Kelly: Was für eine Inkonsequenz!
Die Debatte, wer eigentlich Jude ist, hat 2021 auch die deutschen Feuilletons erreicht. Da ging es um den Autor Max Czollek, der einen jüdischen Großvater hat und sich als Jude definiert. Wie habt ihr damals den Diskurs erlebt?
Oriana: Ich glaube nicht, dass in dem Fall irgendjemand recht hat. Als was du dich identifizierst, ist so individuell und einzigartig. Natürlich kannst du dich stark mit deinem Großvater verbunden fühlen. Vielleicht hat er eine große Rolle in deiner Kindheit gespielt, vielleicht hat er Auschwitz überlebt und bei dir ein intergenerationales Trauma hervorgerufen. Dieses Erbe wird ja nicht in deiner Biografie gelöscht, nur weil die Halacha dich nicht als Juden definiert. Auch in dem großen gesellschaftlichen Diskurs, der ja über die Debatte um Czollek hinausging, hatte ich das Gefühl: Patrilineare Juden werden in der Luft hängen gelassen. Und das kann nicht sein. Es muss irgendeinen Raum geben, wo man so existieren kann, wie man ist.
Christoph: Für die deutsche Presse war das ein gefundenes Fressen: Juden streiten mit Juden.
Max Czollek hat im Gegensatz zu dir nur einen jüdischen Großvater, spricht aber öffentlich als Jude. Du nicht.
Christoph: Ich möchte betonen, dass meine beiden Großväter sich selbst gar nicht als Juden verstanden haben. Sie wurden von den Nazis zu Juden gemacht. Aber ich wollte meine jüdische Biografie auch nie in die Waagschale werfen, etwa um meinen antisemitismuskritischen Artikeln durch eine vermeintlich authentische Sprechposition mehr Nachdruck zu verleihen.
Alexandra: Unsere Betroffenheit wird oft mit Expertise verwechselt. Auch beim Thema Israel werde ich oft dazu gedrängt, mich zu äußern.
Kelly: Wir sind den Nichtjuden kein Entertainment schuldig. Dass wir uns immer erklären sollen, ist sehr anstrengend und nervig.
Man sollte vorsichtiger mit Vaterjuden umgehen. Das ist das Mindeste und widerspricht auch nicht der Halacha.
oriana löwenstein
Ist das in Israel anders?
Alexandra: Ich war einmal mit Taglit in Israel. Auf der Tour waren ganz viele postsowjetische junge Leute, und es hat vollkommen ausgereicht, dass der Großvater jüdisch war. Ein sehr verbindendes Gefühl. Ich fand es schön, dass Menschen in Israel aussahen wie ich. Diese Selbstverständlichkeit habe ich danach sehr vermisst.
Kelly: Ich fliege regelmäßig nach Tel Aviv. Da spielt Religion eine untergeordnete Rolle, und das finde ich sehr erfrischend. Meine Patrilinearität war nie Thema. Ich fand es viel entspannter als hier in Berlin.
Christoph: Die israelischen Freunde meiner Eltern inkludieren uns auch einfach, da ist das gar kein Thema.
Alexandra: Ich glaube aber auch, dass wir uns hier in Deutschland solche Räume schaffen können, in denen wir uns akzeptiert fühlen. Ich habe vaterjüdische Freundinnen und Freunde, die mich annehmen, wie ich bin, und die mir viel über jüdische Traditionen beigebracht haben.
Oriana: Wir brauchen diese Räume. Das bedeutet meiner Meinung nach aber nicht, dass man jetzt die Halacha umschreibt.
Alexandra: Das kann auch gut jenseits von Religion existieren.
Was wünscht ihr euch für die nächste Generation von Vater-, Großvater-, oder gar Urgroßvaterjüdinnen und -juden in Deutschland?
Kelly: Mehr Akzeptanz. Viele Reformgemeinden sind da schon weiter als noch vor ein paar Jahren. Die Statusanerkennung sollte leichter gemacht werden, wenn die Person sich wirklich jüdisch fühlt. Was kann es schaden? Wir sind doch so wenige!
Alexandra: Nebeneinander existieren zu dürfen. Ich möchte die jüdische Diversität, die wir in Berlin schon haben, auch abgebildet und anerkannt sehen. Dass die nächste Generation sich nicht, wie wir oft, allein fühlen muss, auch in den Kämpfen, die man mit sich selbst führt. Und dass jüdische Gemeinden und Institutionen uns da auch entgegenkommen.
Christoph: Ich frage mich bei meiner Tochter, inwiefern sie das Jüdische in ihre Selbsterzählung integrieren kann. Ich werde ihr vermitteln, dass das eine große Relevanz für unsere Familie hat. Gleichzeitig hat sie auch Vorfahren mit Nazihintergrund. Was wird dieses Dazwischensein in ihr auslösen? Und wird sie sich angesichts des wachsenden Antisemitismus überhaupt zu ihrer Jüdischkeit bekennen können? Das ist es, was mir Sorgen macht.
Oriana: Ich wünsche mir sowohl von der Gesellschaft als auch der jüdischen Gemeinschaft mehr Empathie. Dass man vorsichtig ist, wie man mit Vaterjuden umgeht, wie man mit ihnen spricht, gerade mit Kindern. Das ist das Mindeste und widerspricht auch nicht der Halacha. Im Gegenteil: Jemanden zu beschämen, ihm das Gefühl zu geben, er sei weniger wert, ist aus einer religiösen Perspektive absolut verwerflich.
Das Gespräch führten Mascha Malburg und Joshua Schultheis.