Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Bei einer Versammlung von Rechtsextremen in Eisenach Foto: picture alliance/dpa

Rechte Gewalt in Thüringen befindet sich auf einem historischen Höchststand. Das ist das Ergebnis der Jahresstatistik 2023 der Gewaltopferberatungsstelle Ezra. Insgesamt 147 Angriffe habe man im vergangenen Jahr registriert, hieß es bei der Pressekonferenz Mitte vergangener Woche.

Damit sei seit Bestehen der Beratungsstelle 2011 der jährliche Durchschnitt von 117 Angriffen weit übertroffen. Mindestens 291 Menschen waren laut Ezra direkt betroffen oder wurden mit angegriffen. Das häufigste Tatmotiv war mit 85 Angriffen weiterhin rassistische Gewalt. Die Zahl antisemitischer Gewalt stieg im Freistaat von zwei im Vorjahr auf sechs Angriffe. Ezra berät, begleitet und unterstützt Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Erfurt, Weimar und Landkreis Sonneberg als Zentrum rechtsmotivierter Angriffe

Neben Erfurt und Weimar wird erstmals der Landkreis Sonneberg als Zentrum rechtsmotivierter Angriffe in Thüringen genannt. Franz Zobel, Projektleiter der Beratungsstelle, sieht eine Verbindung zum Wahlerfolg der AfD. Seit Juni stellt die Partei im Landkreis – erstmalig in Deutschland – mit Robert Sesselmann einen Landrat. Über die Hälfte der Bevölkerung hat ihn gewählt. Zobel sieht darin eine mögliche Erklärung für die Zunahme rechter Gewalt im Landkreis. Hasskriminalität breite sich da aus, wo Täter erkennen, dass ihre Tat die Unterstützung in der Bevölkerung hat. Zobel spricht von einer »Unterstützungsgemeinschaft«.

In Sonneberg proste man sich nicht zu, sondern rufe »Sieg Heil«, berichtet Marcel Rocho. Der gebürtige Sonneberger ist Gastronom und engagiert sich zivilgesellschaftlich. Er betont, dass es in Sonneberg nie anders gewesen sei. Rocho zufolge hängen in der Fußgängerzone Reichskriegsflaggen; Textilverkäufer verkaufen Merchandise von verbotenen Nazibands, und die Polizei sieht weg.

Der Druck auf zivilgesellschaftlich Engagierte nehme zu. Seit dem Landkreis-Wahlsieg der AfD fühle sich politische Arbeit gegen rechts an, »als hätte man jetzt schon ein Fadenkreuz im Rücken«. Wegziehen aber wolle er nicht. »Wo soll ich denn hinziehen? Sonneberg ist ein schlechtes Beispiel, aber es ist nur eine von vielen Städten.« Den Rechtsex­tremen wolle er nicht den Raum überlassen.

Auch Natalia Beck, Projektleiterin von »Raus aufs Land«, nimmt eine »besorgniserregende Stimmung« in Thüringen wahr. Die Antidiskriminierungsstelle klärt auf dem Thüringer Land über Rassismus auf und berät Betroffene. Beck spricht von einer deutlichen Zunahme rassistischer Vorfälle. Gleichzeitig seien Betroffene einem enormen Druck ausgesetzt, Unterstützung der Beratungsstelle in Anspruch zu nehmen. Sie berichtet von Fällen im Arbeitskontext, wo etwa der Arbeitgeber mit Konsequenzen gedroht habe, sollten sich Betroffene Beratung suchen.

Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Schmierereien

Die Jahresstatistik listet Gewalttaten auf. Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Schmierereien werden nicht aufgenommen. Das erklärt die niedrige Zahl antisemitischer Vorfälle. Laut Theresa Lauß von Ezra handle es sich bei diesen meist um Ereignisse unterhalb der Gewaltschwelle. Zudem sagt sie: »Aufgrund fehlender Sensibilisierung ist davon auszugehen, dass Polizei und Justiz antisemitische Straftaten nicht adäquat einordnen und deshalb möglicherweise nicht zu uns verweisen.«

Aus der Beratungsarbeit könne Lauß eine Veränderung seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erkennen. Jüdinnen und Juden berichten ihr, aus Angst ihren Davidstern nicht mehr in der Öffentlichkeit tragen zu wollen. Sobald man sie als jüdisch identifiziere, verlange man eine Positionierung zur Politik Israels. Viele würden sich seither isoliert fühlen und hätten sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen.

Lauß verweist auf die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen. Voraussichtlich im Sommer sei mit deren Statistik zu rechnen, in der dann auch antisemitische Vorfälle unterhalb der Gewaltschwelle registriert sind. Es sei ihr mitgeteilt worden, dass man seit dem 7. Oktober in Thüringen einen deutlichen Anstieg antisemitischer Übergriffe verzeichnet habe, so Lauß.

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