Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage hatte die Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V. am vergangenen Sonntag zum Talk »Jüdisches Leben in Deutschland – Heute und Morgen« eingeladen. Dass das Thema bewegte, war offensichtlich, denn der Saal im Münchner Literaturhaus war bis auf den letzten Platz besetzt.
Die Vereinsvorsitzende Judith Epstein betonte, die große Resonanz zeige, dass viele Münchner jüdische Kultur aktiv unterstützten und sich mit jüdischem Leben solidarisierten. Unter den Gästen waren auch prominente Persönlichkeiten wie der Moderator Günther Jauch sowie die Schauspielerinnen Sunnyi Melles und Uschi Glas, deren Engagement für die Geiseln Epstein besonders würdigte.
Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle verwies in seinem Grußwort auf Ergebnisse einer Studie der europäischen Grundrechteagentur FRA zu Erfahrungen mit Judenhass: 96 Prozent der befragten Juden in Europa berichteten von antisemitischen Erfahrungen im vergangenen Jahr, 65 Prozent fühlten sich weniger sicher. »Das sind Zahlen, die uns Sorgen machen müssen«, so Spaenle – zumal antisemitische Haltungen heute zunehmend aus der gesellschaftlichen Mitte heraus formuliert würden.
Deutliche Worte
Auch Stadtrat Michael Dzeba wählte deutliche Worte. Wenn sich jüdische Menschen in Deutschland entfremdet fühlten, dann »sind auch wir selbst wieder fremd«. Judenhass sei ein Seismograf für den Zustand der Gesellschaft. Es sei deshalb spät, so Dzeba, »aber nicht zu spät«.
Moderator Gil Bachrach aus dem Vorstand des veranstaltenden Vereins ließ gleich zu Beginn der Gesprächsrunde keinen Zweifel am Ernst der Lage. Der 7. Oktober 2023 habe eine gesellschaftliche Dynamik ausgelöst, die viele als offene Revolte gegen Juden empfänden. Zugleich stellte er klar: »Die Frage nach dem Morgen ist auch eine Frage nach Möglichkeiten.«
Die Diskussion machte deutlich, wie sehr die jüdische Gemeinschaft unter Druck steht.
Über diese Möglichkeiten sprachen vier Gäste mit sehr unterschiedlichen Bezügen zum Thema. Armin Nassehi, Mitglied des Deutschen Ethikrats und Soziologieprofessor sowie seit Oktober Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität, untersucht in seinem im März erscheinenden Buch Anmerkungen zum Antisemitismus die strukturellen Konstanten judenfeindlicher Denkformen.
Auf dem Podium beschrieb er, wie solche Muster sich auch global vervielfältigt hätten – sichtbar unter anderem im Rahmen der documenta fifteen im Jahr 2022. Gesamtgesellschaftlich, aber auch im universitären Umfeld erkenne er selbst eine zunehmende Verschmelzung von Protesthaltung und antisemitischen Zuschreibungen. Hochschulen müssten daher Räume schaffen, in denen Konflikte sachlich und akademisch fundiert ausgetragen werden könnten.
Ambivalenzen aushalten
Die Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Adriana Altaras berichtete, dass sie selten persönlich angegriffen werde, auch, weil sie nicht in sozialen Medien aktiv sei. In ihrem Umfeld jedoch begegneten ihr regelmäßig Menschen, die BDS-Argumente verträten. Ihre Antwort: »Wenn wir keine Künstler, Wissenschaftler, Musiker mehr aus Israel einladen, wissen wir irgendwann gar nicht mehr, wie Israel ist.« Ihr sei gerade die offene Kommunikation wichtig, besonders mit jungen Menschen. Ambivalenzen auszuhalten, sei eine Fähigkeit, die nicht verloren gehen dürfe. »Weitermachen«, so Altaras, »ist die einzige Chance.«
Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen« und zusammen mit Hamed Abdel-Samad Autor des Bestsellers Was darf Israel?, schilderte die Realität einer zunehmend belastenden Gegenwart. »Der jüdischen Seele geht es schlecht«, hielt er unter Verweis auf anekdotische wie empirische Evidenz fest. Er selbst erhalte regelmäßig Drohungen – per Brief, per Mail, über soziale Medien. Auch über die individuelle Ebene hinaus fragte Engel, wie Sicherheit empfunden werden könne, wenn Islamisten auf Demonstrationen wie am Berliner Alexanderplatz Unterstützern Israels offen Gewalt androhten und straffrei ausgingen.
Auch die Medien nahm er in die Pflicht: In der Nahostberichterstattung würden Ursache und Wirkung oftmals vertauscht, wichtige Fakten ausgeblendet. Als Beispiel nannte Engel Medien wie den »Spiegel«, die »Süddeutsche Zeitung« und insbesondere den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Marcel Reif, dessen Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag 2024 große Aufmerksamkeit erregt hatte, sprach eindringlich über Verantwortung.
Der Sportjournalist und Kommentator Marcel Reif, dessen Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag 2024 große Aufmerksamkeit erregt hatte, sprach eindringlich über Verantwortung. Ohne jüdisches Leben, so Reif, gebe es für Deutschland keine Zukunft – und doch verspiele das Land gerade seine »zweite Chance«.
»Ich arbeite daran, ein anständiger Mensch zu sein«
Anfang der 2000er-Jahre hatte er seinen ersten Vornamen Nathan streichen lassen – ein Schritt, der viel über das gesellschaftliche Klima jener Zeit aussage. Die Antwort auf die Frage nach seiner Identität laute heute schlicht: »Ich arbeite daran, ein anständiger Mensch zu sein.« Die Gegenwart erlebe er zwiespältig, es gebe zwar vieles, das positiv stimmen könne, aber die fehlenden Konsequenzen nach antisemitisch motivierten Straftaten seien nur noch schwer erträglich.
Die Diskussion führte eindrücklich vor Augen, wie sehr die jüdische Gemeinschaft in Deutschland unter Druck steht – und wie viele Menschen dennoch beharrlich weiter daran arbeiten, Perspektiven für ihre Zukunft aufzuzeigen. Am Ende dieses Nachmittags standen daher eine Feststellung und zugleich ein Appell: dass jüdisches Leben in Deutschland als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung zu begreifen sei. Und in den Worten von Marcel Reif: »Jeder sollte versuchen, ein anständiger Mensch zu sein.«