Porträt der Woche

Wegweiser Glaube

»Ich war die Erste in meiner Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Batmizwa hatte«: Marie Weinstein (19) lebt in Frankfurt. Foto: TR

Porträt der Woche

Wegweiser Glaube

Marie Weinstein macht gerade Abitur und möchte vor dem Studium nach Israel reisen

von Elke Wittich  13.05.2023 22:35 Uhr

Gerade bin ich mit den schriftlichen Abi-Prüfungen fertig geworden, in Deutsch, Englisch und Mathe. Mitte Juni habe ich dann noch die mündlichen Prüfungen in Religion und Kunst. Nach dem Abitur möchte ich für ein halbes Jahr nach Israel, um meine jüdische Identität weiterzuentwickeln, Juden und Jüdinnen aus aller Welt kennenzulernen und mir etwas klarer darüber zu werden, was ich beruflich machen möchte.

Anschließend will ich gern studieren, aber ich weiß noch nicht genau, was. Entweder möchte ich in die kreative Richtung gehen und Grafik-Designerin werden. Oder später einen Beruf haben, in dem ich mit Kindern arbeite, also etwa im Bereich Sozialarbeit. Auch ein Lehramtsstudium käme für mich infrage.

machane 2016, im Alter von zwölf Jahren, war ich zum ersten Mal auf Machane, nun bin ich selbst Madricha. Seit meinem 16. Lebensjahr bin ich im Jugendzentrum »Amichai« der Frankfurter Gemeinde aktiv, dort betreue ich die Jüngsten. Man kann so viel an sie weitergeben und ihnen spielerisch so viel beibringen, über das Judentum und die Feiertage zum Beispiel.

Während der Corona-Pandemie sind wir wie alle anderen auch in den Lockdown gegangen, aber über die Amichai-App waren wir trotzdem gut organisiert. Jeder Madrich hatte eine Aufgabe, es gab Wochenpläne, wir haben Shows gemacht, und sonntags gab es dann Programm mit den Kindern. Wir haben es geschafft, jede Woche etwa 80 Kinder zu erreichen, mit denen wir auch die Amichai-Hymne per Zoom gesungen haben.

Natürlich war Corona ein Einschnitt, zumal meine Großeltern zur Risikogruppe gehören und wir dadurch sehr vorsichtig sein mussten. Statt sie zu sehen, haben wir viel telefoniert. Und als dann zum ersten Mal Impfungen möglich waren, war das aber schon eine Erleichterung.

natur Besonders gelangweilt war ich während der Lockdowns nicht, die Schule ging ja weiter, nur eben anders. Alle waren über Teams verbunden, es gab Videokonferenzen, die Unterrichtsmaterialien wurden hochgeladen, die Aufgaben online abgegeben. Ansonsten bin ich viel mit meiner besten Freundin und unserem Familienhund, dem Zwergpudel Lotta, spazieren gegangen. Ich mag es sowieso, die Natur und, wenn es schön ist, das Wetter zu genießen.

Das Gefühl, während Corona viel verpasst zu haben, habe ich nicht, das geht wohl auch eher den Älteren so. Ich war ja noch zu jung, um nächtelang Partys zu feiern. Aktuell gehe ich ohnehin nicht viel feiern, das Abitur hat einfach Priorität. Ich tanze gern, und ich treffe mich gern mit Freunden, aber ich muss nicht die Nächte durchtanzen.

Wenn mich jemand zur Rumba auffordern würde, könnte ich sofort lostanzen.

Tanzen gehört übrigens zu meinen Hobbys. Eigentlich habe ich immer getanzt. Als ich fünf Jahre alt war, war ich in einer Gruppe, in der russisch-jüdische Volkstänze angeboten wurden. Aber das ist noch nicht alles: Ich habe eineinhalb Jahre Jazz Dance gemacht, danach Hip-Hop und dann Standard. Als Gruppe haben wir mehrere Kurse in Standard-Tänzen absolviert, nun habe ich das Deutsche Tanzabzeichen in Bronze, Silber und Gold. Wenn jemand in dieser Minute käme und mich zur Rumba auffordern würde, könnte ich also sofort lostanzen.

hobby Mein anderes großes Hobby ist das Reiten. Als ich fünf Jahre alt war, sind meine Eltern mit meinem großen Bruder und mir zum ersten Mal auf einen Familienreiterhof gefahren. Da gab es nicht nur Pferde, sondern auch viele andere Tiere, sogar Lamas, für Kinder war das ideal. Viele Jahre sind wir danach im Herbst immer dort auf diesem Reiterhof gewesen, manchmal auch mit befreundeten Familien. Später, das war im Jahr 2015, habe ich dann selbst Reiterferien gemacht und Freundschaften geschlossen.

Seither bin ich fast jedes Jahr dort, denn es macht nun doppelt Spaß, weil man erfahren ist und Neuen helfen kann. Natürlich hätte ich gern ein eigenes Pferd, aber damit gehen viel Verantwortung und hohe Kosten einher. Ein Pferd muss täglich gefüttert, getränkt, bewegt, geputzt werden, dazu braucht es immer frische Streu in seiner Box. Aber wer weiß, vielleicht kaufe ich später meinen Kindern ein Pony.

Darüber nachgedacht, beruflich etwas auf einem Reiterhof zu machen, habe ich im Übrigen nie. Über Grafik-Design als Studienfach dagegen sehr wohl. Im Jugendzentrum leite ich zum Beispiel den Social-Media-Kanal, dazu zählt auch die Aufgabe, Flyer zu erstellen. Und ich bin im Abi-Komitee, wo es viel zu gestalten gab. Nicht nur Einladungen, sondern auch Pullover, und zwar nicht nur einen. Es gibt Kurs-Pullis, zum Beispiel für den Deutsch- und den Englisch-Leistungskurs, und natürlich Stufen-Pullis.

Der Slogan der Abitur-Pullover lautet »Abi there for you«, den haben wir aus der Serie Friends entlehnt. Auf diesen Pullis ist das Sofa aus der Serie verewigt, allerdings nicht eins zu eins, sondern im Comic-Style, und natürlich stehen dort auch die Vornamen aller Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe.

ABI-PULLOVER Das Design zu entwerfen, die einzelnen Elemente zu kreieren und die eigene Kreativität zu fordern, das hat schon großen Spaß gemacht. Und einige Zeit gekostet, denn es sollte ja am Ende allen gefallen. Im Januar haben wir dann unsere Abschlussfahrt gemacht, alle trugen ihre Pullover, das war schon sehr cool. Im Moment ist mein Leben etwas eintönig, ich muss schließlich viel lernen und vorbereiten.

Mein großer Bruder und ich wohnen noch bei unseren Eltern, die beide berufstätig sind. Aktuell bereite ich mich auf die mündlichen Prüfungen vor, helfe bei den Vorbereitungen auf unseren großen Abiball, und letztens habe ich für die Gemeinde über Mazze-Rezepte geschrieben. Mein Lieblingsrezept stammt von meinem Vater, es ist so eine Art Kuchen. Mein Geburtstag fällt nämlich oft auf Pessach, und deswegen bekomme ich dann natürlich keinen herkömmlichen Kuchen.

Mein großer Bruder und ich wohnen noch bei unseren Eltern, die beide berufstätig sind.

Ansonsten lerne ich gerade Iwrit. Und das kam so: Von der ersten bis zur vierten Klasse war ich auf der Lichtigfeld-Schule. Damals gab es dort noch keine Oberstufe, und deswegen bin ich danach auf eine andere Schule gegangen. Als ich für die Oberstufe zurückkehrte, war es zu spät, um wirklich Iwrit zu lernen, denn das hätte drei zusätzliche Unterrichtsstunden in der Woche bedeutet.

HEBRÄISCH Aber nun lerne ich mithilfe einer App Hebräisch, das klappt auch ganz gut. Wenn mich jemand anspricht, würde ich ihn wohl verstehen, aber je nachdem, worum es geht, vielleicht nicht antworten können.

Das wird sich aber ganz sicher ändern, wenn ich erst einmal in Israel bin. Dort wird es dann auch die Möglichkeit geben, Berufspraktika zu machen, darauf freue ich mich schon sehr. Wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, weiß ich danach auch, was ich studieren möchte.

Ich war schon ein paar Mal in Israel, zum ersten Mal 2016 mit meiner Familie. Wir sind mit dem Auto herumgereist und von Stadt zu Stadt gefahren, denn meinen Eltern ist es immer sehr wichtig, dass wir viel vom jeweiligen Land sehen, wenn wir irgendwo hinfahren. Mir hat es in Israel sehr gut gefallen, zumal wir auch viel in der Natur unterwegs waren.

Wie ich mir mein Leben vorstelle, wenn ich 30 bin? Im Idealfall bin ich dann verheiratet, habe einen guten Job, der mich erfüllt, und vielleicht auch schon Kinder. Ich würde gern in Frankfurt bleiben, denn hier habe ich nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Großeltern immer um mich gehabt, und diesen engen Kontakt zur Familie würde ich meinen Kindern später auch gern ermöglichen.

GEMEINSCHAFT Mein Mann soll auch jüdisch sein, mir ist mein Judentum nämlich sehr wichtig. Jüdisch zu sein, bedeutet für mich vor allem, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die den Glauben, die Gebräuche und Kultur miteinander teilt. Der Glaube ist eine Art Wegweiser, eine feste Konstante im Leben.

Nächstenliebe ist ein wichtiger Teil davon, alle Mitmenschen zu respektieren und ihnen gegebenenfalls zu helfen, passt außerdem gut in die heutige Zeit. Ich war die Erste in meiner Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine Batmizwa hatte, das haben meine Eltern bei der Feier besonders betont.

Meine Großeltern hatten in der Sowjet­union Schwierigkeiten, ihre Religion öffentlich auszuleben, ich habe dagegen die Möglichkeit, koscher zu essen oder einzukaufen, und das Privileg, auf eine jüdische Schule zu gehen. Dafür werde ich immer dankbar sein.

Aufgezeichnet von Elke Wittich

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