Fußball

»Wegschauen hilft nicht«

Im Jahr 1936 betritt Walter Frankenstein zum ersten Mal ein Fußballstadion – die »Plumpe«, die damalige Spielstätte von Hertha BSC. Sofort ist der Jugendliche fasziniert. Als Jude ist er dabei nicht erkennbar.

Bis 1941 geht Walter Frankenstein regelmäßig ins Stadion. Dann lernt er seine Frau kennen, die ihn davon überzeugt, vorsichtig zu sein. Um der Deportation zu entgehen, tauchen beide in Berlin unter und überleben.

zeitzeuge An diesem Septemberabend sitzt der 94-Jährige auf der Bühne der Stiftung Neue Synagoge in Berlin und spricht über seine Liebe zur Hertha. Die Stiftung Neue Synagoge hat gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Schwarzkopf-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion zur Verantwortung des deutschen Fußballs eingeladen. Anlass sind die Recherchen des Hertha-BSC-Fanprojekts »Spurensuche« zu jüdischen Vereinsmitgliedern im Nationalsozialismus.

»Wir müssen mit den Jungen arbeiten, bei den Alten ist nicht mehr viel zu holen«, sagt Walter Frankenstein und bringt das Publikum damit zum Lachen. »Wenn ich höre, wie die Hertha ihre Vereinsgeschichte mittlerweile aufgearbeitet hat, bin ich stolz, ein Fan dieses Klubs zu sein.« Lange Zeit sah das allerdings ganz anders aus, gibt der langjährige Hertha-Aufsichtsratsvorsitzende und ehemalige Präsident Bernd Schiphorst zu. »Für uns in der Vereinsführung war die Zeit des Nationalsozialismus eine Blackbox und einfach kein Thema«, sagt er selbstkritisch. »Das ist ein Unding für einen Verein mit einer solchen Verantwortung.«

Erst 2006 beauftragte Schiphorst den Historiker Daniel Koerfer, das Verhalten des Vereins im Nationalsozialismus zu untersuchen. Die Materiallage war dünn, vieles war bei einem Brand oder »in den Wirren der Nachkriegszeit verloren gegangen«, berichtet er. »Doch wir wollten schonungslos alles wissen, es durfte kein Zensieren oder Vertuschen geben.«

Ein Ergebnis der Recherchen, die 2009 unter dem Titel Hertha unter dem Hakenkreuz erschienen, waren Erkenntnisse zum jüdischen Vereinsarzt: Hermann Horwitz wurde im April 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet.

vereinsarzt Viel mehr war damals allerdings noch nicht bekannt. Es ist das Verdienst des Fanprojekts »Spurensuche«, die Geschichte von Horwitz recherchiert und veröffentlicht zu haben. So erfuhren die Fans nach langem Wälzen von Vereinsakten, das Horwitz am 26. September 1938 aus dem Verein ausgeschlossen wurde – mit dem Vermerk »Nichtarier«.

Jetzt wollen sie sich dafür einsetzen, dass der Ausschluss auf einer der nächsten Hertha-Mitgliederversammlungen postum annulliert wird. Und sie machen weiter: Bei den mittlerweile abgeschlossenen und veröffentlichten Recherchen zu Horwitz stießen sie auf weitere ausgeschlossene jüdische Vereinsmitglieder.

So wurde beispielsweise auch Eljasz Kaszke aus dem Verein verbannt – nach elf Jahren Mitgliedschaft. Weil er Jude war. Am 13. September 1939 wird er schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, wo er am 17. März 1940 im Alter von 42 Jahren ermordet wird.

denkmuster Über Kaszkes Leben ist nicht viel bekannt. Die »Spu­rensuche«-Gruppe will das ändern und geht wieder in die Archive. Sie recherchiert in der Gedenkstätte Sachsenhausen, in den Vereinsunterlagen, alten Adressbüchern und in Warschau, wo Kaszke geboren wurde. »Wir wollen das Leben und Wirken der jüdischen Mitglieder wieder ins Vereinsbewusstsein holen«, sagt ein Projektteilnehmer in der Stiftung Neue Synagoge.

Unterstützung bekommt die Gruppe dabei von der Vereinsarchivarin Juliane Röleke. »Wenn wir die Geschichten aus der staubigen Kammer des Vereinsarchivs sammeln, wollen wir sie ins Stadion tragen«, sagt sie. Teilweise klappt das schon: Zum 75. Jahrestag der Deportation von Hermann Horwitz hing eine Fahne der Gruppierung »Gruppa Süd« zum Gedenken an den früheren Hertha-Vereinsarzt am Fanblock.

Auch in anderen Vereinen geht die Ini­tiative zu solchen Projekten oft von der Fanszene aus. Beispielsweise zeigte der FC Bayern lange kein Interesse an der Geschichte seines jüdischen Präsidenten Kurt Landauer, bis die Ultras der »Schickeria München« immer wieder an Landauer erinnerten.

Juliane Röleke hält solche Projekte für sehr wichtig. Aus dem Erinnern müsse aber immer auch eine Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Ideologie folgen. »Dazu braucht es auch Mut zur Selbstreflexion. Welche grundlegenden Denkmuster führen zum Nationalsozialismus, und wie entstehen sie? Welche Akteure waren beteiligt, und welche Handlungsspielräume hatten sie? Das sind dann auch Fragen der Mitverantwortung und der Täterschaft«, sagt sie. »Es darf nicht bei der Recherche der Lebensgeschichten der Verfolgten bleiben, so wichtig diese auch sind.«

lehren Zustimmung erhält sie von Andreas Geisel (SPD), Senator für Inneres und Sport, »Sport ist der schöne Teil dabei«. Geisel fordert, dass die Profivereine Haltung beim Thema Antisemitismus und Rassismus zeigen müssen. »Da hilft kein Schweigen, Wegschauen oder Hoffen, dass das von alleine weggeht«, sagt er.

Auch die Stadt Berlin habe noch viel beim Thema Vergangenheit aufzuarbeiten. Bernd Schiphorst verspricht, dass das Engagement von Hertha BSC weitergehen wird. »Wir haben uns geöffnet und werden uns weiter öffnen. Eine der Lehren aus dem Projekt ist, dass wir gesellschaftliche Fragen diskutieren und uns deutlich gegen Rassismus und Antisemitismus positionieren. Auch das ist die Hertha im Jahr 2018!«

Zum Abschluss bietet Walter Frankenstein noch seine Unterstützung dabei an. »Wenn die Hertha mich braucht, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Ich bin seit 1936 Fußballfan und bleibe es mein Leben lang!«

Chemnitz

Erinnerungen an Justin Sonder

Neben der Bronzeplastik für den Schoa-Überlebenden informiert nun eine Stele über das Leben des Zeitzeugen

 19.10.2025

Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

Susanne Jakubowski war Architektin, liebt Tanz und die mediterrane Küche

von Brigitte Jähnigen  19.10.2025

Miteinander

Helfen aus Leidenschaft

Ein Ehrenamt kann glücklich machen – andere und einen selbst. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erzählen, warum das so ist und was sie auf die Beine stellen

von Christine Schmitt  19.10.2025

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025

Nova Exhibition

Re’im, 6 Uhr 29

Am 7. Oktober 2023 feierten junge Menschen das Leben. Dann überfielen Hamas-Terroristen das Festival im Süden Israels. Eine Ausstellung in Berlin-Tempelhof zeigt den Horror

von Sören Kittel  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Bonn

Hunderte Menschen besuchen Laubhüttenfest

Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde in Bonn, Jakov Barasch, forderte mehr Solidarität. Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hätten sich hierzulande immer mehr Jüdinnen und Juden aus Angst vor Übergriffen ins Private zurückgezogen

 13.10.2025

Hamburg

Stark und sichtbar

Der Siegerentwurf für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge steht fest

von Heike Linde-Lembke  09.10.2025