Berlin

Von der Charité nach Theresienstadt

»Für meine Enkel niedergeschrieben«: Unter dieser Überschrift verfasste Hermann Strauß 1941 seine autobiographischen Notizen. Foto: Hentrich & Hentrich

Berlin

Von der Charité nach Theresienstadt

Mehr als ein medizinhistorisches Dokument: die »Autobiographischen Notizen« von Hermann Strauß

von Eckart Hirschhausen  19.01.2015 17:55 Uhr

Auf dem Kurfürstendamm gibt es einen Stolperstein mit seinem Namen. Aber wenn ich ehrlich bin, kannte ich von ihm nur die Strauß-Kanüle zur Blutabnahme, hatte aber keine Ahnung, welcher Mensch und welche Geschichte dahinterstecken. Umso erfreulicher ist es, dass nun Harro Jenss und Peter Reinicke im Verlag Hentrich & Hentrich Hermann Strauß’ Autobiographische Notizen und Aufzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt herausgegeben haben.

Es ist eine liebevoll und sorgfältig editierte Sammlung. Im ersten und längsten Teil schildert Strauß seinen Werdegang und seine wissenschaftlichen Arbeiten, dann folgen seine Aufzeichnungen aus Theresienstadt und ein Manuskript eines Vortrages aus dem Jahre 1944: »Schicksale des Berliner jüdischen Krankenhauses in den vergangenen 30 Jahren«. Im Vorwort schildert seine Enkelin Irene Hallmann-Strauß, wie sie mit fünf Jahren »Arzt wie Opapa« werden wollte. Tatsächlich widmet Strauß seine Autobiografie, die er 1941 niederschrieb, seinen Enkeln.

leben Strauß wurde am 28. April 1868 in Heilbronn geboren, studierte in Würzburg und Berlin, promovierte in der Neurologie, war dann aber als Internist zehn Jahre an der Charité Berlin. 1910 wurde Strauß für die nächsten 32 Jahre Leitender Arzt der Abteilung für Innere Medizin am Jüdischen Krankenhaus Berlin.

Er erforschte viele Felder: Nerven, Niere, Verdauung und Stoffwechsel. Anfang der 20er-Jahre gehörte er zu den ersten deutschen Medizinern, die Insulin bei zuckerkranken Patienten anwandten. Die von ihm 1898 beschriebene Strauß-Kanüle leitete die moderne Labordiagnostik ein. Strauß lag neben der Wissenschaft immer die Aufklärung der Patienten am Herzen, er verfasste laienverständliche Schriften über Gesundheitsfragen – was damals noch ungewöhnlicher war als heute.

Zwischen den Zeilen wird deutlich, wie benachteiligt jüdische Ärzte schon lange vor 1933 waren. Hermann Strauß schildert die politischen Verhältnisse zwar nur wenig und indirekt, aber seine Verantwortung und Verzweiflung wird spürbar, wenn er beschreibt, wie er sich unter immer schwierigeren Bedingungen für seine Patienten einsetzte.

Ghetto 1942 wurden Strauß und seine Ehefrau in das KZ Theresienstadt deportiert, wo er 1944 mit 77 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb. Seine Frau Elsa, die als eine Wegbereiterin der modernen Krankenhaussozialarbeit gilt, kommt in den Notizen nur selten vor. Sie überlebte das KZ, starb aber am 13. Juni 1945 an den Folgen der schweren Infektionskrankheiten im Ghetto.

Am beeindruckendsten ist der zweite Teil des Buches, in dem Strauß schildert, wie er sich als Mitglied des Ältestenrates für ein funktionierendes Gesundheitswesen im Ghetto eingesetzt hat. Täglich waren 10.000 Patienten zu versorgen, mit Typhus und anderen Epidemien infolge der Unterernährung und Hygiene. Unermüdlich hielt er Vorträge zur Seuchenbekämpfung und Ernährung, aber auch zum »Wunderland Ägypten« oder »Erinnerungen an baltische Länder«.

Strauß baute zusammen mit anderen unter schwierigsten Bedingungen eine Krankenversorgung auf. Von den 720 Ärzten im Ghetto wurden 1944 bis auf 80 alle nach Auschwitz deportiert. Ein Mithäftling erinnert sich: »In den letzten Tagen wendeten sich viele Personen hilfesuchend an ihn, um durch seine Fürsprache Befreiung vom Transport zu erhalten, das hat den alten Herrn sehr erregt, und er litt unter der Auflösung des Gesundheitswesens sichtlich.«

beobachtungen Er selbst lässt in seinen Notizen keine Verzweiflung zu, beschreibt die psychischen Konflikte der verschiedenen Gruppen in einer ärztlich distanziert-diagnostischen Art »von der Umformung des Charakters im Sinne des Eintritts einer erhöhten Reizbarkeit und eines Niedergangs sozialer Empfindungen und Verpflichtung«. Lebendiger schildert er, welchen Wert die Kultur im Ghetto hatte.

Die Autobiographischen Notizen sind ein wichtiges Dokument der Medizin und Zeitgeschichte, und zwischen den Zeilen berühren sie den Leser gerade mit ihrer nüchternen Sprache.

Der Rezensent ist Mediziner und zählt zu Deutschlands beliebtesten Comedians.

Hermann Strauß: »Autobiographische Notizen und Aufzeichnungen aus dem Ghetto Theresienstadt«. Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 168 S., 24,90 €

KZ-Befreiungen

Schüler schreibt über einzige Überlebende einer jüdischen Familie

Der 18-jährige Luke Schaaf schreibt ein Buch über das Schicksal einer Jüdin aus seiner Heimatregion unter dem NS-Terrorregime. Der Schüler will zeigen, »was Hass und Hetze anrichten können«

von Stefanie Walter  29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025

Berlin

Bebelplatz wird wieder zum »Platz der Hamas-Geiseln«

Das Gedenkprojekt »Platz der Hamas-Geiseln« soll laut DIG die Erinnerung an die 40 in Geiselhaft getöteten Israelis und an die 59 noch verschleppten Geiseln wachhalten

 28.04.2025

Berlin

Jüdische Gemeinde erinnert an Warschauer Ghetto-Aufstand

Zum Abschluss der Namenslesung vor dem Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße ist für den Abend ein Gedenken mit Totengebet und Kranzniederlegung geplant

 28.04.2025

Düsseldorf

Erinnerungen auf der Theaterbühne

»Blindekuh mit dem Tod« am Schauspielhaus stellt auch das Schicksal des Zeitzeugen Herbert Rubinstein vor

von Annette Kanis  27.04.2025

Hanau

Jüdische Gemeinde feiert Jubiläum

»Im Grunde genommen ist es mit das Größte und Schönste, was eine Gemeinde machen kann: eine neue Torarolle nach Hause zu bringen«, sagt Gemeinde-Geschäftsführer Oliver Dainow

 25.04.2025

Begegnung

Raum für das Unvergessene

Jede Woche treffen sich Schoa-Überlebende im Münchner »Café Zelig«, um Gemeinschaft zu finden im Schatten der Geschichte. Ein Ortsbesuch

von Katrin Diehl  23.04.2025

Interview

»Das Gedenken für Jugendliche greifbar machen«

Kurator Pascal Johanssen zur neuen Ausstellung im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Pankow

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.04.2025

Porträt der Woche

Austausch mit Gleichen

Maria Schubert ist Gemeindesekretärin in Magdeburg und tanzt gern

von Alicia Rust  18.04.2025