Porträt der Woche

Verliebt in Sachsen

Vor dem Haus seiner Schwiegereltern: Noam Ben Adava (39) Foto: Douglas Abuelo

Porträt der Woche

Verliebt in Sachsen

Noam Ben Adava wuchs in Tel Aviv auf. Jetzt lebt er in einem kleinen Dorf bei Leipzig

von Steffen Reichert  04.06.2012 19:38 Uhr

Es klingt ein wenig verrückt, aber es ist wirklich so: Jeden Tag lerne ich etwas Neues, und das, obwohl ich nun schon einige Jahre hier lebe. Das letzte Wort, das ich neu gelernt habe, hieß »schwatzen«. Und als ich dann meinen Teilnehmern im Kurs davon erzählte, habe ich erfahren: Das ist gar kein Sächsisch, sondern Hochdeutsch. Also noch etwas gelernt – jeder Tag ein neues Abenteuer.

Eigentlich ist mein ganzes Leben ein Abenteuer. Wenn man wie ich in Tel Aviv geboren und aufgewachsen ist, ahnt man nicht, dass man eines Tages in einem Dorf namens Röcknitz leben wird, eine knappe Autostunde von Leipzig entfernt. Doch mir war schon immer klar: Ich will die Welt sehen, ich will Amerika kennenlernen – die Küsten, die Gebirge, die Millionenstädte und die Unbeschwertheit.

Weltreise Also lag es nahe, dass ich mich nach der Schule und dem dreijährigen Armeedienst auf eine Weltreise machte – mit dem Rucksack auf dem Rücken. Von England bis Tschechien, von Schweden bis Portugal, später dann auch durch die USA. Das war eine tolle Erfahrung, weil man immer neue Leute trifft, immer irgendwo unterkommt. Ich war damals noch ganz jung: 21 Jahre alt.

Das war 1994. Man konnte in Berlin und Budapest noch gut erkennen, wie es vor dem Fall des Eisernen Vorhangs gewesen sein musste. Überall waren die Spuren von einst zu sehen, die Architektur, die alte Werbung, die Fassaden. Bei dieser Reise wurde mir klar, was ich später einmal machen wollte: irgendetwas mit Tourismus, mit Menschen.

So ist es schließlich auch gekommen. Ich habe nach dieser unglaublich guten Erfahrung und meiner Collegezeit in der Tourismusbranche gearbeitet. Einerseits habe ich für Unternehmen Reisen organisiert, andererseits war ich auch als Reiseleiter unterwegs. Das Schöne an diesem Beruf ist, dass man, auch wenn man zu Hause im Büro sitzt, bei jedem Telefonat das Gefühl hat, im Ausland zu sein – und sei es nur, weil es ein Gespräch mit einem Italiener ist.

Lektion An der Costa del Sol in Südspanien habe ich bei einem mehrmonatigen Aufenthalt als Reiseführer die wohl größte Lektion meines Lebens gelernt: Ich habe begriffen, dass man Organisation zwar lernen kann, aber dass Kommunikation entscheidend ist. Auf Menschen zuzugehen, sich ihnen zu öffnen und ihnen Mut zu machen, das ist die wahre Kunst.

Von dieser Lektion zehre ich heute noch. In den Gemeinden rings um Röcknitz biete ich Sprachkurse an. Ich unterrichte Englisch. Für mich ist dabei wichtig, den Schülern die Angst zu nehmen davor, dass es mit der Grammatik vielleicht etwas hapert. Wichtig ist, dass sie begreifen, dass nur das Sprechen hilft und der Mut, sich zu überwinden. Mein ältester Schüler war 78 Jahre alt. Ein rüstiger Herr, der mit einem unglaublichen Elan noch einmal etwas Neues erleben wollte. Das hat mich sehr beeindruckt, auch weil es die Klischees von kleinen Dörfern widerlegt.

Dass ich 2006 selbst nach Röcknitz kam, war eigentlich Zufall. Während einer meiner Reisen als Tourleader lernte ich in der Türkei Steffi kennen. Da hat es gefunkt. Steffi stammt aus Röcknitz, arbeitet hier als Kindergärtnerin und wohnt im Haus ihrer Eltern: unten sie, oben wir – und vor dem Haus gibt es einen wunderschönen Garten.

Abenteuer Es brauchte seine Zeit. Zunächst sind wir gependelt. Steffi kam nach Israel und hat sich schon beim ersten Besuch in das Land verliebt. Dann kam ich nach Röcknitz – für mich auch ein riesiges Abenteuer. Ich hatte 800 Meter vom Meer entfernt in einer gerade mal 100 Jahre alten Stadt gelebt – einer Großstadt! – und kannte von Deutschland nur Hamburg und Berlin. Und dann Röcknitz: 800 Jahre alt, ein kleines beschauliches Dorf.

Dennoch: Ich bin geblieben. Inzwischen haben wir geheiratet, waren auf Hochzeitsreise, sind glücklich. Steffi hat hier ihren Job, sie ist also gebunden. Mein Alltag ist ganz normal. Natürlich ist am Haus und auf dem Grundstück immer etwas zu tun. Aber glücklicherweise gibt es hier viele, die uns dabei helfen.

Neben meinen Englischkursen organisiere ich Sprach- und Bildungsreisen. Ganz privat, ohne institutionelle Partner, aber dennoch professionell. Ich will den Menschen hier in der Region Israel zeigen und ihnen deutlich machen, was das für ein Land ist. Hier weiß ja kaum jemand etwas darüber. Aber meine Erfahrung bei allen diesen Reisen ist, dass die Teilnehmer begeistert sind, wenn sie Tel Aviv und Jerusalem, Haifa und das Mittelmeer erleben. Dafür lohnt es sich, die Mühen auf sich zu nehmen.

dorfkneipe Manchmal frage ich mich, was Heimat ist. Auch wenn ich in Röcknitz zu Hause bin, auch wenn ich die kleine Dorfkneipe und den Bäcker, die Kühe und Hühner der Nachbarn mag: Meine Heimat ist natürlich Israel. Dort lebt mein Vater, der mal Polizist war, da wohnen meine beiden Brüder, die Rechtsanwälte sind. Ein- oder zweimal im Jahr versuche ich, dorthin zu fahren.

Dann brauche ich immer erst ein oder zwei Nächte, bis ich einschlafen kann – wegen des Lärms. Unsere Wohnungstür liegt direkt an einer Bushaltestelle, dementsprechend laut und hektisch ist es dort. Ich muss also immer lächeln, wenn wir von Röcknitz aus nach Leipzig fahren und mir Steffi sagt: »Rushhour!« Dann erwidere ich: »Ihr habt noch keine Rushhour erlebt.« Nach Leipzig fahren wir regelmäßig. Noch haben wir ja keine Kinder, wir sind unabhängig. Wir fahren also hin, sei es, weil wir einkaufen wollen oder aber uns einen netten Abend machen möchten.

Russendisko Wir gehen oft ins Kino; dort schaue ich mir fast ausschließlich deutsche Filme an. Ich mag es nicht, wenn ausländische Streifen synchronisiert werden. Aber die deutschen Filme haben was. Ich mag Til Schweiger und seine »Keinohrhasen«. Und zuletzt haben wir »Russendisko« gesehen – eine tolle Kaminer-Komödie, die beschreibt, wie sich ein paar junge Kerle in ihrer neuen Heimat durchschlagen. Großartig!

Neben den Ausflügen nach Leipzig und den Reisen ins Ausland gibt es wieder Phasen, in denen ich lange in Röcknitz bin. Das ist dann die wahre Idylle. Ich sitze im Garten, lese ein Buch und mache mir einen Espresso. Ich genieße es, über das Internet israelische Zeitungen zu lesen.

Dass wir jetzt in Röcknitz DSL haben, war ein Riesenkampf. In Israel hatte ich seit 2000 einen Anschluss für schnelles Internet. Hier ging bis letztes Jahr gar nichts, und es hat zwei Jahre Kampf gebraucht, bis ein Anschluss gelegt wurde. Nun haben wir ihn, er ist wie das Tor zur Welt. So bin ich auf der einen Seite ganz international, auf der anderen hier sehr bodenständig.

jom kippur Ich bin nicht religiös im klassischen Sinne. Es sind eher die Traditionen, an denen ich festhalte. Ich esse kein Schweinefleisch, und ich faste an Jom Kippur. Steffi liest sehr viel zu jüdischer Geschichte und Kultur, manchmal sage ich scherzhaft, dass sie inzwischen darüber mehr weiß als ich. Obwohl es im Umkreis von 50 Kilometern vermutlich außer mir keinen weiteren Israeli gibt, bin ich hier integriert. Die Leute sind nett, offen und unglaublich interessiert an allem, was mit Israel zu tun hat. Vielleicht ist das noch eine Folge dessen, dass es früher im Osten kein objektives Israelbild gab.

Möglicherweise liegt es aber auch daran, dass ich versuche, ganz unbefangen auf die Menschen hier zuzugehen. Es ist ja Teil meiner Philosophie, dass es darauf ankommt, sich zu öffnen und so den Menschen entgegenzutreten. Dann wird alles möglich sein.

Aufgezeichnet von Steffen Reichert

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