Berlin

Unten, wo die Regale stehen

Wenn du nach unten schaust, spürst du Leere und Stille – zwei wesentliche Stoffe, aus denen ich dieses Denkmal kreiert habe», sagt der israelische Künstler Micha Ullman. «Wenn ich jedoch von innen hochschaue, sehe ich im Glas die Widerspiegelung des Himmels. In Berlin ist er oft von Wolken bedeckt. Wolken assoziiere ich mit Rauch. Das bedeutet für mich, dass die Bücher jeden Tag symbolisch verbrannt werden.»

Mit diesen Worten erläutert Ullman den Stipendiaten der Jungen Akademie, die zur Akademie der Künste gehört, das Konzept der von ihm geschaffenen «Bibliothek der verbrannten Bücher». Die jungen Künstler hatten am vergangenen Montag die einmalige Gelegenheit, das Denkmal unter dem Bebelplatz von innen zu betrachten. Das Publikum kann nur von oben durch ein kleines Fenster in die «Bibliothek» schauen.

projekt Der 1939 geborene Künstler hat die Idee für das Denkmal seit den 70er-Jahren entwickelt. Am 20. März 1995 wurde es eingeweiht. Heute sagt Ullman, dass Berlin wohl die 50 Jahre nach Ende des Krieges gebraucht hat, bis es sich dieses Projekt leisten konnte.

«Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen», lesen die jungen Leute auf den Bronzeplatten neben dem Denkmal. Der Satz, den Heinrich Heine zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschrieben hatte, fing am 10. Mai 1933 an, schreckliche Wirklichkeit zu werden. An diesem Tag warfen viele Professoren und Studenten der heutigen Humboldt-Universität mehr als 20.000 Bücher ins Feuer.

Für Ron Segal, einen 34-jährigen Israeli, der bei der Jungen Akadamie ein Stipendium für Film- und Medienkunst erhielt, hat dieser Ort eine wesentlich größere persönliche Bedeutung als für seine Kollegen aus anderen Teilen der Welt. Die Führung war Segals Idee. Zunächst konnte er Ullman überzeugen, und dann erhielt er eine Sondergenehmigung vom Bezirksamt Mitte.

fernsehteam Für Ullman selbst war es der erste Gang ins Innere des Denkmals seit 20 Jahren. Als ihn 1995 ein Fernsehteam dorthin begleiten wollte, hatte er abgesagt. Für die jungen Künstler aber machte er eine Ausnahme. «Das, was wir hier heute machen», sagt Ullman lächelnd, «ist eine Werkstattsituation für die jungen Menschen am Anfang ihrer Karriere.»

Um die «Bibliothek» zu erreichen, muss man durch ein unterirdisches Parkhaus gehen. Über diese Tiefgarage hatte sich Ullman vor einigen Jahren sehr geärgert. Als sich die Stadt für deren Bau entschied und zu diesem Zweck das Grundstück an einen privaten Investor verkaufte, sollte auch das Denkmal verändert werden. «Als ich versuchte, das zu stoppen, habe ich gegen Windmühlen gekämpft. Auf meiner Seite waren die Medien und viele Politiker, auf der anderen Seite das große Geld und der moderne Urbanismus. Wir haben verloren.»

Ullman berichtet, dass er damals kurz davor war, das ganze Denkmal abreißen zu lassen. «Ich sage immer, dass es in der Kunst keinen Kompromiss gibt.» Aber: «Ich hatte nicht den Mut dazu.»

Erst später konnte er etwas für sich entwickeln, das er «inneren Ersatz» nennt, erklärt Ullman, während er mit der Gruppe durch die Tiefgarage geht. «Ich habe über den Parkplatz als eine besondere Art Bibliothek nachgedacht: Die Bücher kommen und gehen wie die Autos, die ihre Position ständig verändern. Im Deutschen gibt es für das Wort ›Auto‹ das Synonym ›Fahrzeug‹. Das klingt wie ›Zeuge‹ – ein Zeuge davon, was hier passiert ist.»

Am Eingang zur «Bibliothek» wartet ein Vertreter des Bezirksamts mit dem Schlüssel. «Ein Zugang zum Unzugänglichen», sagt er, als sich die Tür öffnet. Drinnen offenbart sich eine kleine Enttäuschung: Das, was von oben endlos scheint, sieht von unten wie ein ganz normales Zimmer aus. Zweimal jährlich kommen Putzkräfte, um die Regale zu reinigen, die Glasplatte und die Lichter zu ersetzen. Wenn es nach Ullman ginge, könnten sie ruhig häufiger kommen. «Das steht aber leider nicht im Vertrag», erwidert der Vertreter des Bezirksamts.

kafka Ofer Aderet, Journalist von Haaretz und auch bei der Führung dabei, ist enttäuscht. «Ich fühle mich wie ein Kind, das eine Zaubershow gesehen hat und plötzlich hinter die Kulissen blickt.» Micha Ullman antwortet: «Leute fragen mich immer wieder, ob das, was sie vom Platz aus sehen, wirklich ist. Ich sage dann, dass es so wirkt wie in Kafkas Geschichten. Man betritt ein Zimmer und wundert sich: Wie habe ich hierher gefunden? Wo ist die Tür?»

Ihre Chance, mit dem Künstler zu diskutieren, nutzt auch Stella Christodoulopoulou, eine 34-jährige Griechin, Schauspielerin und Fotografin. Bei ihr, Stipendiatin im Bereich Darstellende Kunst, ist von Enttäuschung keine Spur, als sie die «Bibliothek» betritt: Es sei für sie «einfach magisch».

Sie erlebe Ullman als «unglaublich herzlich, ehrlich und bescheiden und mit einer Sensibilität, wie sie viele Künstler heute nicht mehr haben». Christodoulopoulou interessiert sich für die Interaktion von Politik und Kunst. Berlin mit seiner «Bibliothek der verbrannten Bücher» sei für sie dabei besonders spannend. «Hier erlebt man den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart; man sieht auch, trotz der tragischen Geschichte, die Buntheit und den Lebenswillen dieser Stadt. Auf der anderen Seite, bewirkt durch die starken sozialen Veränderungen, ist die Stadt heute auch irgendwie wurzellos.»

wurzel
Deshalb findet sie Ullmans Werk so wichtig. «Es erinnert an die Geschichte in einer Art und Weise, die kraftvoll bewegt und an die Wurzel erinnert. Sie wandelt ein dunkles Ereignis in Stille und Licht um», sagt Stella Christodoulopoulou. «Das erinnert an Unendlichkeit».

Diese Begehung der «Bibliothek» werden die Stipendiaten sicher nie vergessen. «Am nächsten Tag hat mich Micha Ullman angerufen und gesagt, dass er dieses Treffen mit uns sehr genossen hat», berichtet Ron Segal. Und die Gruppe habe noch am folgenden Tag über ihren Besuch diskutiert. Viele aus der Gruppe hätten gar nicht gewusst, dass er Israeli ist. Vermutlich wüssten sie es jetzt noch nicht.

Für Segal ist das «ein Beweis, dass dieses einzigartige Werk wirklich stärker wirkt als Religion oder Herkunft». Im Gedächtnis vieler Teilnehmer sind auch diese Worte von Micha Ullman geblieben: «Die Regale in der Bibliothek sind leer, und die ›Wolken-Flammen‹ können die Bücher nicht beschädigen. Leere bewältigt die Flamme. Für mich bedeutet es aber eines: Bücher kann man vernichten, doch Ideen und Gedanken sind unauslöschbar.»

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