Bundestag

Treffen der Generationen

Elisabeth Kaiser brachte es gleich zu Beginn auf den Punkt. »So etwas gab es noch nie im Deutschen Bundestag«, sagte die Abgeordnete der SPD und zugleich Kuratoriumsmitglied der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), die gemeinsam mit dem Tikvah Institut und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) die Veranstaltung »Jüdisches Leben in Deutschland heute – drei Generationen und ihre Erfahrungen« auf die Beine gestellt hatte.

Jüdinnen und Juden mit ganz unterschiedlichen Biografien sollten in mehreren Panels den Abgeordneten individuelle Einblicke verschaffen und ihnen ein Bild davon vermitteln, was es heißt, in Deutschland aufzuwachsen und sich hierzulande zu verorten.

»Ich betrachte es als ein großes Geschenk, nirgendwo richtig reinzupassen.«

Dmitrij Kapitelman

Die Idee dazu entstand in einem Gespräch zwischen Deidre Berger vom Tikvah Institut und Thomas Krüger, dem bpb-Präsidenten, bereits vor einigen Jahren. »Nun ist sie Realität geworden«, freute sich Krüger. Zugleich sprach er eine Empfehlung aus, die immer wieder von den anderen Panel-Teilnehmern aufgegriffen wurde. »Die hier stattfindende Diskussion gehört eigentlich in Ihre Wahlkreise.«

Und damit wird die Intention der Veranstaltung bereits deutlich. Die in den einzelnen Beiträgen zur Sprache gekommenen Aspekte sollten von den Bundestagsabgeordneten aufgegriffen und von ihnen – wenn möglich – andernorts weiter in die Mehrheitsgesellschaft hinein kommuniziert werden. Selbstverständlich im Dialog.

Gemeinschaft So berichtete die Schriftstellerin Minka Pradelski, was es für sie als 1947 geborene Tochter zweier Schoa-Überlebender bedeutete, im Land der Täter aufzuwachsen. »Die in Deutschland gestrandeten Displaced Persons aus dem östlichen Europa wagten irgendwann die ersten Schritte für einen Wiederaufbau.«

Selbstverständlich war das nicht, wie auch Rabbiner Andrew Aryeh Steiman betonte, dessen Familie sich über den Umweg Vereinigte Staaten in Frankfurt eine Existenz aufbaute. »Es war eine kleine Gemeinschaft, jeder kannte jeden.« Und die nach dem Krieg Geborenen wagten das erste Coming-out als Juden in der Öffentlichkeit. »Wir kämpften gegen den Antisemitismus und besetzten in den 80er-Jahren die Bühne des Frankfurter Schauspielhauses, als dort das antisemitische Fassbinder-Stück aufgeführt werden sollte.« Das war ein absolutes Novum.

Dann kamen »die Russen«, und die jüdische Gemeinschaft wuchs schlagartig um 280.000 Menschen. »Ein Erfolg und eine Herausforderung zugleich«, wie Günter Jek, ZWST-Büroleiter in Berlin, urteilt. Überall entstanden neue Gemeinden.

altersarmut Aber zugleich gab es das Problem von Altersarmut und prekärer Beschäftigung, weil Abschlüsse aus der ehemaligen Sowjetunion nicht anerkannt wurden. Das erscheint umso absurder, weil die Mehrheit von ihnen einen akademischen Hintergrund hatte und Deutschland trotz Fachkräftemangel sich nicht willens zeigte, ihr Potenzial zu nutzen. Dafür setzten diese Zuwanderer ihre Energien dann zum Aufbau der vielen neuen Gemeinden ein. »Es stellt sich die Frage, ob es in Ordnung ist, dass von staatlicher Seite denjenigen, denen wir ein Wiedererstarken des jüdischen Lebens zu verdanken haben, so wenig Wertschätzung entgegengebracht wird.«

»Deutschland hat es diesen Menschen nicht immer einfach gemacht«, lautet denn auch die Beobachtung von Bärbel Bas. »Aber heute sind sie ein Teil der Gesellschaft geworden und beziehen Positionen«, so die Bundestagspräsidentin. »Deshalb sind wir erfreut, dass sie uns Einblicke über das neue jüdische Selbstbewusstsein gewähren.«

»Normalität, wann tritt diese endlich ein?«

Abraham Lehrer

Genau das machte denn auch der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman, der als »Jude aus dem Plattenbau in Leipzig« davon sprach, wie es um seine Identität als Autor bestellt ist, der auf Deutsch schreibt, aber in der Außenwahrnehmung nicht als Deutscher gilt, weil er aus einer russischsprachigen Familie mit einer nichtjüdischen Mutter aus der Ukraine stammt.

»Ich betrachte es als ein großes Geschenk, nirgendwo richtig reinzupassen«, so Kapitelman. »Das ist eine sehr jüdische Erfahrung.« Auch Anna Staroselski, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), spricht von »multiplen Identitäten« und stellt die Forderung auf, »dass man uns Juden einfach mal zuhört«.

Wünsche Über die aufkeimende Vielfalt im religiösen Leben wussten Rebecca Seidler, Vorsitzende des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, und Rabbiner Daniel Fabian von Kahal Adass Jisroel Berlin zu erzählen. Wie ein roter Faden zogen sich dabei die Wünsche und die Forderungen nach mehr Sicherheit durch die Beiträge. »Normalität, wann tritt diese endlich ein?«, fragte auch Abraham Lehrer.

»Aber wir konnten heute erleben, wie sich jüdische Menschen aller Generationen ihnen gegenüber geöffnet und Fragmente ihres Inneren offenbart haben«, so der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Insofern bin ich froh und dankbar, dass wir diese Möglichkeit nutzen können, die Diversität jüdischen Lebens hierzulande im Bundestag zu zeigen.«

Und wie Deidre Berger brachte auch er die Hoffnung zum Ausdruck, dass dies kein einmaliges Event war und es weitere Möglichkeiten einer Begegnung mit den Bundestagsabgeordneten geben wird.

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025

Jahrestag

»So betäubend wie damals«

Am Mahnmal in Fürstenfeldbruck wurde an die Opfer des Olympia-Attentats von 1972 erinnert

von Luis Gruhler  13.09.2025

Feiertage

Tradition im Paket

Das Familienreferat des Zentralrats der Juden verschickt die neuen Mischpacha-Boxen mit allerhand Wissenswertem rund um Rosch Haschana und Sukkot

von Helmut Kuhn  12.09.2025

Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Die Filmemacherin Shoshana Simons über ihre Arbeit, das Schtetl und die Jüdische Kunstschule

von Pascal Beck  11.09.2025

München

Ein Fundament der Gemeinde

Die Restaurierung der Synagoge an der Reichenbachstraße ist abgeschlossen. In den Erinnerungen der Mitglieder hat das Haus einen besonderen Platz

von Luis Gruhler  11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigte sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Dialog

Brücken statt Brüche

Eine neue große Tagung der Denkfabrik Schalom Aleikum widmet sich der digitalen Kommunikation in Krisenzeiten

 11.09.2025