Biografie

»Traut euch, Fragen zu stellen«

Als Zeitzeugin auch im hohen Alter gefragt: Eva Szepesi neben einem Foto, das sie als Neunjährige zeigt Foto: Marco Limberg

Eva Szepesi sitzt an einem runden Eichentisch im Esszimmer ihrer Frankfurter Altbauwohnung. Im Hintergrund bewegen sich die Gardinen im Luftzug der halb geöffneten Fenster. Von draußen wirft die Sonne einige Lichtflecken in die Räume. Viele Vasen mit Blumensträußen zeugen davon, dass der 92-Jährigen unlängst eine besondere Auszeichnung verliehen wurde. Vor ihr liegen Zeitungsartikel mit Fotos, auf denen Szepesi in rotem Kostüm mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zu sehen ist, sowie mit Oberbürgermeister Mike Josef, der die Laudatio hielt.

»Die Jüdische Gemeinde Frankfurt hat mir das Ehrensiegel in Silber verliehen, die höchste Auszeichnung, die sie vergeben kann«, erklärt Szepesi stolz. Behutsam öffnet sie eine blaue Schatulle, in der die Medaille liegt. »Für ihr unermüdliches und bewegendes Engagement als Zeitzeugin und gegen das Vergessen über jüdisches Leben«, so lautet die Gravur. Denn die 92-jährige Schoa-Überlebende, die am 29. September 93 Jahre alt wird, engagiert sich seit über drei Jahrzehnten ehrenamtlich. »Es begann, als ich von Mitarbeitern der Shoah Foundation des US-Regisseurs Spielberg gefragt wurde, ob ich zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz dorthin reisen wollte, um meine Geschichte zu erzählen«, erzählt Szepesi. »Seitdem besuche ich Schulen, Universitäten und Veranstaltungen, um gegen das Vergessen zu sprechen.«

Sie schwieg jahrzehntelang über das, war ihr widerfahren ist

Vorher hat sie über das, was ihr widerfahren ist, jahrzehntelang geschwiegen. Aus Ohnmacht, aus Trauer, vielleicht auch aus Scham. Über 50 Jahre lang wussten nicht einmal ihre beiden Töchter Genaueres über den Albtraum, der auch heute noch schwer in Worte zu fassen ist. Am 27. Januar 1945 wurde die damals zwölfjährige Eva – mehr tot als lebendig – von einem sowjetischen Soldaten gerettet. Damit gehört Szepesi zu den gerade einmal etwa 400 sogenannten »child survivors«, die als Kinder die Haft in Konzentrationslagern überlebt hatten. Kurz darauf erfuhr sie, dass niemand aus ihrer Familie noch am Leben war. Vater, Mutter, der kleine Bruder – allesamt ermordet.

»Als Erwachsener möchte man seine Kinder nicht damit belasten, aber natürlich haben sie immer gefühlt, dass etwas nicht stimmt«, erzählt Szepesi. Sie sahen ja, dass ihre Mutter auf dem linken Unterarm eine tätowierte Nummer hat. Vorsichtig schiebt sie den Ärmel ihrer Bluse hoch, die Ziffern kommen zutage, deutlich lesbar, selbst nach so vielen Jahren. »A–26877«, sagt Szepesi, ohne dabei auf ihren Arm zu schauen. »So wurden Menschen zu Nummern degradiert.« Heute könne sie über nahezu alles sprechen. Selbst in Talkshows oder im Bundestag. Anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus hat sie dort am 31. Januar 2024 eine ergreifende Rede gehalten. »Besonders jetzt, wo die AfD so präsent ist, ist es wichtiger denn je, dem Judenhass und all denjenigen, die einfach wegschauen, etwas entgegenzusetzen«, so Szepesi.

Plötzlich erklingt ein Summton. Sie steht auf, holt ihr rotes iPad und überfliegt die eingegangenen Zeilen. »Das ist aber eine interessante Anfrage!«, freut sie sich. Kaum ein Tag, an dem nicht eine Einladung eingehe, so Szepesi. Neben Bildungseinrichtungen auch Ausstellungseröffnungen, Firmenbesuche oder Lesungen. »Es sind viele interessante Projekte darunter, bundesweit«, sagt sie. Etliche Firmen fingen jetzt erst an, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Sie werde später in Ruhe antworten. Bis zum Herbst sei ihr Terminkalender bereits gefüllt.

Geboren 1932 in Budapest, Ungarn. Geburtsname: Diamant

Szepesi wirkt konzentriert und deutlich jünger, als es das Geburtsjahr in ihrem Pass ahnen lässt: 1932 in Budapest, Ungarn. Geburtsname: Diamant. Gibt es etwas, über das sie nicht sprechen möchte? Sie schüttelt den Kopf. »Das sage ich auch immer den Kindern und Jugendlichen, sie sollen sich trauen, mir Fragen zu stellen«, antwortet Szepesi. »Denn es ist etwas vollkommen anderes, wenn man etwas im Geschichtsunterricht hört, als von jemandem, der es wirklich erlebt hat«, betont sie. »Durch das Treffen mit Zeitzeugen werden die Menschen, die mit ihnen gesprochen haben, zu Zeugen von Zeitzeugen.« Damit gehe eine Verantwortung einher. »Es gibt ja nicht mehr viele von uns!«

Heute könne sie über nahezu alles sprechen. Selbst in Talkshows oder im Bundestag.

Eine der häufigsten Fragen, die ihr gestellt wird? »Wie schafft man es zurück ins Leben, wenn alles, woran man jemals geglaubt hat, vernichtet wurde?«, zitiert Szepesi. »Als ich wieder zurückkam, blieb mir keine Zeit zum Trauern«, fährt sie fort. »Ich habe erst einmal nur funktioniert, und das ging, weil ich alles verdrängt habe.« Erst kam sie bei Angehörigen unter, die den Holocaust überlebt hatten, machte einen Schulabschluss. »Die KZ-Nummer auf meiner Haut habe ich mit Puder abgedeckt, darüber habe ich eine lange Bluse getragen.« Nach der Schule wurde sie Schneiderin.

Szepesi unterbricht ihre Erzählung kurz: »Wollen Sie vielleicht einen Espresso? Ich sollte ihn nicht trinken, weil ich dann nicht schlafen kann, vielleicht nehme ich einen halben.« Flink läuft die 1,60 Meter große Frau in die Küche, in der noch das Gestell mit der frisch gewaschenen Wäsche zum Trocknen steht. Für den Anblick entschuldigt sie sich. Kurz darauf kehrt sie mit zwei blau-weißen Porzellantassen zurück. Erbstücke? Sie schüttelt den Kopf. »Von meinen Eltern habe ich nichts mehr. Keinen einzigen Gegenstand, nicht einmal eine Kette, einen einzigen Teller, irgendetwas, was ich in den Händen halten könnte.«

»Umso älter ich werde, umso mehr kommt alles wieder zurück«

Was ihr hingegen bleibe, seien die Erinnerungen. »Umso älter ich werde, umso mehr kommt alles wieder zurück.« Auch aus der Schulzeit, als plötzlich niemand mehr mit ihr spielen wollte, nur weil sie Jüdin war, der schmerzliche Abschied von der Mutter, die sie mit einer Tante auf die Flucht in die Slowakei schickte, oder die letzte Begegnung mit dem geliebten Vater. Mit einer flüchtigen Bewegung wischt Szepesi die Erinnerungen beiseite.

Wie ist sie aber nach Deutschland gekommen? »Meinem Mann wurde damals die Mitarbeit der ungarischen Handelsvertretung in Deutschland angeboten.« So sei man ins Land der Täter gekommen. Seit 54 Jahren lebt sie nun in Frankfurt. Dort hat sie zusammen mit ihrem Mann Andor, einem gelernten Kürschner, vor 53 Jahren ein Geschäft für Pelzmode eröffnet. Es wird heute von ihrer Tochter weitergeführt. »Leider ist mein Mann schon vor 32 Jahren verstorben.«

Ihr Blick wandert in Richtung des Porträts, das sie als junge Frau mit Andor in Budapest zeigt. »Er war auch Jude, aber das wusste ich nicht, als wir uns erstmals begegneten, in einer Straßenbahn«, erinnert sie sich. »Erst erzählte er mir, er sei Katholik.« Nachdem man wusste, dass beide Juden seien, hätte ihr Onkel nichts gegen diese Verbindung gehabt. Sie zeigt auf weitere Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die neben den Fotos ihrer beiden Töchter, der vier Enkel und drei Urenkel stehen. Sie selbst ist im Alter von neun Jahren, mit geflochtenen Zöpfen, zu sehen.

Daneben die Mutter mit dem kleinen Bruder Tamás auf dem Arm. Auf einem weiteren Foto lacht er übermütig in die Kamera. »Er war erst acht Jahre alt, als er ermordet wurde.« »Jedes Mal, wenn ich sein Bild betrachte, überfällt mich der Gedanke, was aus ihm hätte werden können. Er war fast vier Jahre jünger als ich, aber viel mutiger.« Sie selbst sei schüchtern gewesen und verweist auf das Bild des Vaters: ein eleganter Mann mit akkuratem Seitenscheitel. »Er hatte ein Geschäft für Herrenmode in Budapest«, erzählt Szepesi. »Ich hatte eine wunderschöne Kindheit, bevor das alles passierte.«

Das Buch berichtet aus der Perspektive eines Kindes über die Schoa

Dann setzten im Sommer 1944 die Deportationen ein. Über das Erlebte hat Szepesi ein Buch geschrieben. Ich war Eva Diamant, ihr erstes Bilderbuch. Es berichtet aus der Perspektive eines Kindes über die Schoa. »Seit über zwei Jahren haben wir dieses Projekt verfolgt.« Sie sei froh, die Veröffentlichung noch zu erleben. Szepesis Texte wurden mit Farbzeichnungen von Stephanie Lunkewitz ergänzt. »Als Vorlage für ihre Bilder dienten die Fotos von meiner Familie.« Die gemalte Eva im Buch gleicht jener, die schüchtern aus dem Bilderrahmen lächelt, aufs Haar. »Eine Nachbarin von uns – wir wohnten damals in einem Vorort von Budapest – hat sie nach meiner Rückkehr aus dem KZ Auschwitz-Birkenau meinem Onkel gegeben, eingewickelt in Zeitungspapier.«

Bei ihr entdeckte sie bei einem Blick durch einen Türspalt hindurch die Möbel ihrer Eltern. »Sie sagte, meine Mutter hätte sie ihr gegeben. Mit den Fotos hat sie wohl nichts anfangen können.« Ein einziges Mal noch habe sie ihre alte Nachbarschaft besucht. »Danach bin ich nie wieder dort hingegangen.« Heute setzt sich eine Schüler-AG der Frankfurter International School dafür ein, dass vor dem ehemaligen Haus, in dem einst Familie Diamant lebte, demnächst Stolpersteine verlegt werden. »Ich hatte eine Lesung an dieser Schule, daraufhin haben die Schüler diese Idee entwickelt.«

Szepesi holt ein pinkfarbenes Fotoalbum hervor. »Liebe Frau Szepesi, Sie haben uns sehr berührt und uns zum Nachdenken gebracht. Ihre Geschichte werden wir weitertragen«, liest man. Sie blättert weiter, zeigt Schnappschüsse, die sie in einem Stuhlkreis mit Jugendlichen abbilden. »Wenn ich auch nur eines dieser Kinder von jeder Schule erreicht habe, hat sich mein Besuch gelohnt«, sagt sie und legt das Album beiseite.

Eva Szepesi und Stephanie Lunkewitz: »Ich war Eva Diamant«. Ariella, Berlin 2025, 60 S., 18,95 €

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