Berlin

Streit um neue Wahlordnung

Die Würfel für eine neue Zusammensetzung des Gemeindeparlaments fallen am 3. September. Foto: Getty Images/iStockphoto

Naomi Birnbach war eine von mehreren Gemeindemitgliedern, die vergangenen Freitag ihre Unterlagen für die Kandidatur für einen Sitz der Repräsentantenversammlung (RV) abgegeben hat. Auch Sigalit Meidler-Waks kandidiert.

»Ich müsste alle Kriterien erfüllen«, sagt die ehemalige Leiterin der Jüdischen Volkshochschule. Es war der letzte Tag, an dem die Unterlagen eingereicht werden konnten – mehr als 30 Kandidaten treten zur Wahl an. »Es ist erschreckend, wie undemokratisch die neue Wahlordnung ist«, sagt Meidler-Waks. »Die Wahlordnung ist auf die Bedürfnisse der Jüdischen Gemeinde zu Berlin neu gestaltet und zugeschnitten worden«, meint hingegen Gemeindechef Gideon Joffe.

Die neue Wahlordnung wird auch vom Zentralrat der Juden mit großer Verwunderung wahrgenommen.

einschränkungen Die neue Wahlordnung und vor allem die erheblichen Einschränkungen im passiven Wahlrecht, also der Möglichkeit zu kandidieren, werden auch vom Zentralrat der Juden mit großer Verwunderung wahrgenommen. »Nach der satzungsgemäßen Autonomie der Jüdischen Gemeinden in Deutschland hat der Zentralrat der Juden keine Kontrollfunktion über deren Arbeit. Hiervon unbenommen ist beim Zentralrat der Juden eine innergemeinschaftliche und unabhängige Gerichtsbarkeit eingerichtet, die im Streitfall angerufen werden kann«, erklärte der Zentralrat der Juden in einer Pressemitteilung.

Und weiter: »Das Gericht und der Gerichtshof beim Zentralrat als Berufungsinstanz sind dann zuständig, wenn eine Mitgliedsgemeinde über keine eigene unabhängige Gerichtsbarkeit verfügt. Die neue Wahlordnung und vor allem die erheblichen Einschränkungen im passiven Wahlrecht wurden im Zentralrat der Juden mit großer Verwunderung wahrgenommen. Solche Regelungen sind keiner anderen unserer Mitgliedsgemeinden üblich. Für den Zentralrat der Juden selbst wäre eine solche Wahlordnung ausgeschlossen.«

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Am 3. September sollen die Stimmen, die über die Zusammensetzung der RV entscheiden und vorher nur noch per Briefwahl abgegeben werden können, ausgezählt werden. Das ist ein neues Prozedere und sorgt für massive Kritik unter Gemeindemitgliedern. Bei früheren Abstimmungen wurden die Stimmen am Wahltag in Wahllokalen in Gemeindeeinrichtungen in die Urne gesteckt, hingegen wurden bei der Briefwahl verschiedentlich Unregelmäßigkeiten beklagt.

Das Recht auf die Abgabe einer Stimme an der Wahlurne ist nun außer Kraft gesetzt. »Dank Briefwahlen kann eine Wahl unabhängig von Ort und Zeit organisiert werden und eine höchstmögliche Wahlbeteiligung ermöglichen«, begründet Joffe das Prozedere. Erstmalig wird die RV für mindestens sechs statt wie bisher für vier Jahre gewählt. Anstelle von 21 Repräsentanten sollen nun nur noch zwischen elf bis 17 im Gemeindeparlament sitzen.

auflagen Neu ist auch, dass die Kandidaten ungewohnte Auflagen erfüllen müssen, um zugelassen zu werden. Bislang konnten Mitarbeiter der Gemeinde nicht für die RV kandieren. Jetzt dürfen sich auch Mitarbeiter oder Amts- sowie Mandatsträger verschiedener Organisationen – von Makkabi über Chabad Lubawitsch und Masorti bis zum Zentralrat der Juden – nicht zur Wahl stellen.

Joffe begründet dies folgendermaßen: »Ein unlauterer Weg wäre, sich als Mitarbeiter einer anderen jüdischen Organisation ein Mandat bei der Jüdischen Gemeinde zu holen, um aus der Mitte der Jüdischen Gemeinde heraus, zum Beispiel zugunsten seines eigenen Vereins und auf Kosten anderer Organisationen, politische Entscheidungen zu beeinflussen und dem Verein Vorteile zu verschaffen.«

Als weitere Einschränkungen des passiven Wahlrechts heißt es, dass ehemalige Mitarbeiter der Gemeinde für die Dauer von zwei Legislaturperioden von der Kandidatur ausgeschlossen werden. Diese dürfen weder nichtjüdische Kinder haben noch über 70 Jahre alt sein. Beim Alter »haben wir uns unter anderem an die geltenden Satzungen der Landratswahlen gehalten«, sagt der Gemeindechef.

Intervention Der Streit um die Wahlen geht jetzt so weit, dass Mitglieder eine Intervention des Senats der Hauptstadt fordern und die innergemeinschaftliche und unabhängige Gerichtsbarkeit des Zentralrats angerufen haben. Erst Anfang Juli wurde die Wahlordnung auf der Gemeinde-Homepage publiziert. Noch nicht einmal zwei Wochen waren Zeit, sich um die 65 nötigen Unterstützer-Stimmen, das polizeiliche Führungszeugnis und die Meldebescheinigung zu kümmern.

Zwei Bündnisse haben sich nun gegründet, deren Mitglieder kandidieren wollen. »Tikkun Berlin« besteht aus sieben potenziellen Kandidaten um Boris Rosenthal, Lala Süsskind und Naomi Birnbach. Das andere heißt LeʼKulam. Hauptinitiator ist Emanuel Adiniaev, der bereits in der RV gesessen hat. Dem Bündnis gehören acht RV-Bewerber an. Auch Gideon Joffe wird mit seinem Bündnis antreten.

Lala Süsskind, ehemalige Vorsitzende der Gemeinde, sieht unter den neuen Ausschlussbedingungen einen Versuch der amtierenden Gemeindeführung, Konkurrenten von der Wahl auszuschließen. Sie hat mit 77 Jahren ihre Unterlagen eingereicht. »Ich möchte, dass die Sitzungen wieder öffentlich stattfinden, es Ausschüsse gibt und die Protokolle ausliegen, kurz: eine transparente Gemeindepolitik.« Und: »Wenn meine Kandidatur abgelehnt wird, werde ich klagen – und ich bin damit nicht allein.«

steuereinnahmen Die Wahl werde sie gegebenenfalls anfechten. »Noch besser wäre es, wenn der Berliner Senat sich rühren würde.« Ihr Anwalt Nathan Gelbart sieht das Land Berlin in der Pflicht: »Ich erwarte, dass der Senat politisch einwirkt und deutlich macht, dass faire Wahlen stattzufinden haben.« Immerhin überweise Berlin, wie staatsvertraglich vereinbart, jährlich Millionen Euro an die Gemeinde. Es könne nicht sein, dass mit den Steuereinnahmen aller Berliner die Gemeinde bedingungslos und kritikfrei unterstützt wird, wenn sie so agiert.

»Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, was die Gemeinde ist, hat auch Pflichten.« Da sollte eine Altersdiskriminierung nicht vorkommen. »Zumal sich das nur auf die neuen Kandidaten bezieht, die, die jetzt schon Repräsentanten sind, dürfen sich auch mit 90 Jahren wieder wählen lassen.«

Der Zentralrat der Juden habe aufgrund der Autonomie der Gemeinden keine Kontrollfunktion, so Gelbart. Er verweist auf die Zuständigkeit des Schiedsausschusses der Gemeinde.

Optimismus Naomi Birnbach, Beterin der Synagoge Pestalozzistraße, ist optimistisch, dass sie alle Kriterien, die für eine Zulassung derzeit nötig sind, erfüllt. »Wir sind eine Einheitsgemeinde, und ich finde es wichtig und gut, wenn sich viele Mitglieder einbringen«, meint sie. Rosenthal, ehemaliger Lehrer des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn, möchte sich ebenfalls in der Gemeinde engagieren. »Aber als früherer Mitarbeiter werde ich wohl nicht kandieren können.«

Jeder potenzielle Kandidat musste in wenigen Tagen 65 Unterstützer finden.

Mario Marcus wollte eigentlich für einen Sitz in der RV antreten. »Aber die Zeit hat nicht mehr gereicht, alle Unterlagen zusammenzubekommen.« Denn ihm standen nur noch vier Tage zur Verfügung, als er vom Urlaub zurückgekehrt war und auch nur über Mundpropaganda von dem Abgabedatum gehört hat. Nun hat er gegen die neue Wahlordnung über seinen Anwalt Klage eingereicht. Aus zwei Gründen wäre seine Kandidatur nicht akzeptiert worden, vermutet er: zum einen, weil er über 70 Jahre alt ist, und zum anderen, weil er dem Masorti-Vorstand angehört.
Bereits die Abstimmung 2019 sorgte für Irritationen.

»Wir waren, gelinde gesagt, verdutzt, weil sich kein Kandidat für die Wahl registriert hat«, so Joffe. Alle Amtsträger wurden in ihrer Position bestätigt. Die Wahl fiel aus. Alle Repräsentanten hätten sich gefreut, weil »wir es als Team geschafft haben, die Jüdische Gemeinde endlich wieder in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Die Mitglieder wussten ihre Gemeinde in guten Händen«. Andererseits hätte die RV die Sorge geplagt: »Wie sichern wir den Nachwuchs für die Gemeindeleitung in einer überalterten Gemeinde?« So sei es zu der Idee über die Reform der Wahlordnung gekommen. Die Debatte ist offenbar noch lange nicht abgeschlossen.

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