Porträt der Woche

»Ständig Formeln im Kopf«

»Ich bin ein aktiver Mensch«: Irina Berbassova (51) ist Mutter, berufstätig und engagiert sich bei WIZO. Foto: Jörn Neumann

Porträt der Woche

»Ständig Formeln im Kopf«

Irina Berbassova arbeitet als Programmiererin in einem Softwareunternehmen

von Matilda Jordanova-Duda  18.05.2010 10:16 Uhr

Am 4. Juni fliege ich nach Moskau, und von da aus fahre ich mit dem Zug Richtung Brjansk. Dort in der Nähe, in Nowosybkow, an der Grenze zu Weißrussland, wurden meine Großeltern und die Geschwister meines Vaters während des Holocausts ermordet. Meinem Vater ist es gelungen, aus dem Ghetto zu fliehen und sich zu den Partisanen durchzuschlagen. Er war damals erst 14 Jahre alt.

Vater wollte uns Kindern das Gemeinschaftsgrab zeigen. Aber er ist ziemlich früh gestorben und hat es nicht geschafft. So will ich es demnächst zum ersten Mal besuchen und für seine Pflege spenden. Keiner weiß genau, ob meine Verwandten wirklich dort liegen. Nach dem, was ich im Internet herausfinden konnte, wurden dort mehr als 4.000 Juden erschossen, aber auf dem Denkmal sind angeblich nur die ebenfalls erschossenen gefangenen Soldaten erwähnt.

barmizwa Unsere Reise nach Israel fällt dieses Jahr leider aus. Die Barmizwa unseres jüngsten Sohnes hat alle Mittel aufgezehrt. Aber es hat sich gelohnt! Es war ein außergewöhnliches Fest – eines im XXL-Format! Er feierte nämlich am 20. Februar im Rahmen der Jewrovision. Köln war dieses Jahr Gastgeber des Musikwettbewerbs aller Jugendzentren Deutschlands. Es gab allein 500 Kinder, die wegen der Jewrovision nach Köln kamen, und sie waren alle eingeladen. Dazu unsere eigenen Gäste, die Verwandten, die Freunde, die Gemeindemitglieder, meine Kollegen.

Der Vorschlag, in diesem großen Rahmen zu feiern, kam von der Gemeinde. Im ersten Augenblick wollte ich ablehnen. Aber der Rabbiner hat mich überredet: Das ist Antons Fest, und für ihn wird es schön, viele Jugendliche dabei zu haben. In der Tat, Anton ist viel mit dem Jugendzentrum unterwegs, oft in den Ferienlagern, er kennt eine Menge Kinder aus ganz Deutschland. Da dachte ich: Eine große Verantwortung zwar, aber sicherlich spannend. Im Nachhinein bin ich sehr froh, zugesagt zu haben. Das war überwältigend.

Die Vorbereitung nahm ein halbes Jahr in Anspruch und kostete mich viele Nerven. Wir gestalteten Flugblätter, die ganze Familie hat sich aus diesem Anlass neu eingekleidet. Ich hätte nie gedacht, dass ich aufgeregter sein würde als vor meiner eigenen Hochzeit. Ich wollte, dass alles super ist.

Die Tora wurde nicht in der Synagoge gelesen, denn diese Riesenmenge an Gästen hätte da unmöglich hineingepasst. Wir haben einen Raum in der Kölner Messe gemietet und dort eine provisorische Synagoge eingerichtet. Ich habe mir Sorgen über die Akustik gemacht und trieb meinen Sohn an zu trainieren, laut und deutlich zu singen. Jede Woche übte er mit dem Kantor, am Ende sogar zweimal die Woche.

Fragen Ich hatte auch ein paar Kollegen zu der Feier eingeladen. Vorwiegend die, die auch Kinder haben. Sie waren danach sehr begeistert und bedankten sich. Aber vorher gab es so viele Fragen! Wie sollen sie sich verhalten? Was anziehen? Dürfen Nichtjuden am Gottesdienst teilnehmen? Sie wussten absolut nichts über das Judentum.

Mir ging es früher ähnlich. Meine Geschwister und ich, wir sind nicht jüdisch erzogen. Wir fühlten uns als Sowjetbürger. Meine Eltern benutzten Jiddisch als eine Art Geheimsprache, wenn sie nicht wollten, dass wir etwas mitkriegen. Und einmal im Jahr, vor Pessach, verschwanden sie nachts. Heute weiß ich, dass sie in einer Untergrund-Bäckerei Mazze gebacken haben. Das war unser einziges jüdisches Fest im Jahr und die einzige Verbindung zur Tradition.

Mein älterer Sohn und meine Tochter hatten keine Barmizwa und Batmizwa. Sie sind schon Mitte 20 und vor vier Jahren zu Hause ausgezogen, um zum Studium nach Wien zu gehen. Ihretwegen habe ich mich eigentlich im Gemeindeleben engagiert. Sie besuchten gern das Jugendzentrum, fuhren ins Ferienlager und haben seit dieser Zeit viele jüdische Freunde. Unsere Wohnung ist groß, und ich habe mir zum Brauch gemacht, Rosch Haschana, Chanukka und Purim zu Hause zu feiern und alle Freunde unserer Kinder einzuladen.

WIZO Es war auch die Idee der Kinder, dass ich in die Frauenorganisation WIZO eintreten sollte. Sie hatten oft die Mitglieder erlebt, die Feste organisierten, Kuchen backten, Spenden sammelten und Tombola-Lose verkauften. »Mama, warum du nicht auch?« Es gibt ja viele russische Juden, die auf die Gemeinde schimpfen – aber sie setzen keinen Fuß hinein. Sie organisieren nichts und nehmen an nichts teil. Und ich bin wegen der Kinder da hineingewachsen und zum Judentum zurückgekehrt.

Mein jüngster Sohn ist bereits hier in Deutschland geboren. Ich wollte schon immer drei Kinder haben und hatte es mir geschworen, mein drittes in Deutschland zu bekommen. Es sollte unter normalen Bedingungen aufwachsen. Und tatsächlich, ich wurde schwanger. Damals lebten wir noch im Übergangswohnheim in Thüringen. Es war klar: Wir müssen schnellstens raus, eine richtige Wohnung und Arbeit suchen. Mein Mann und ich, wir sind beide Informatiker. Unsere Moskauer Ausbildung wurde hier anerkannt, und nach einigen Sprachkursen fanden wir Arbeit bei einer Firma in Köln.

Die älteren Kinder gingen aufs Gymnasium, meine Mutter half mir mit dem Kleinen. Alles lief super. Und dann kamen wir eines Tages zurück aus dem Urlaub – und fanden im Briefkasten die Nachricht, dass die Kölner Niederlassung dichtmacht und wir beide entlassen werden. Da haben wir uns geschworen, nie mehr im selben Unternehmen zu arbeiten. Es bereitet mir bis heute ein mulmiges Gefühl, Urlaubspost durchzulesen.

Steuerrecht Doch ich hatte Glück im Unglück: Nur einen Monat später konnte ich bei der Bonner Firma anfangen, in der ich bis heute als Softwareentwicklerin arbeite. Es ist ein bekanntes Unternehmen, spezialisiert auf Software für Steuerberater. Der Beruf des Programmierers ist für Frauen mit Familie sehr hart. Denn die Gedanken an die Arbeit lassen einen nicht mehr los: Ständig wirbeln mir die Formeln und die Software-Probleme im Kopf herum. Wie viele Male habe ich schon meine Haltestelle verpasst! Aber was soll’s, ich habe Arbeit.

Wir haben in der Firma Gleitzeit, aber meine 40 Wochenstunden muss ich dennoch arbeiten. Ich bin ein aktiver Mensch. Manchmal unternehme ich eine Menge in der Woche. Unsere Gemeinde bietet viel an: Konzerte, Treffen, Lesungen. Dazu die WIZO-Veranstaltungen. Außerdem gibt es in Köln jeden ersten Mittwoch im Monat in einem Programmkino einen Filmabend über Israel oder das Judentum. Das lasse ich mir fast nie entgehen.

Die meisten Veranstaltungen beginnen erst um 20 Uhr, sodass ich länger im Büro bleibe und noch Arbeit erledige. Dann kann ich direkt zu der Veranstaltung fahren oder einen kurzen Stadtbummel einschieben. Früher habe ich mehr unternommen. Vielleicht weil wir da nur 38,5 Stunden Arbeitszeit hatten und jetzt 40. Diese anderthalb Stunden, das sind im Jahr hochgerechnet über zehn Tage. Die fehlen dann fürs Ehrenamt. An manchen Wochen ist also an jedem Abend irgendetwas. Natürlich gibt es aber auch solche, da bin ich so erschlagen, dass es nur für die Arbeit und für zu Hause reicht.

Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda

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