Studie

Spuren und Beweise

Wir beklagen das Ende der Ära der Zeitzeugen», gab Wolfgang Benz – nicht zum ersten Mal – zu bedenken und fuhr provokativ fort: «Sind wir denn wirklich an den Zeugnissen interessiert?» Der Berliner Historiker kann sich offenbar nicht des Eindrucks erwehren, emotionale Betroffenheit sei attraktiver als das Wissen um das wirkliche Geschehen.

Als kürzlich die Murmeln auftauchten, mit denen Anne Frank gespielt haben soll, reagierten die Medien prompt. Benz, vormals tätig am Institut für Zeitgeschichte und von 1990 bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, ist einer der führenden Kenner der NS-Historiografie und gut vernetzt. Als er jedoch für das von Frank angeregte Projekt, «erste Zeugnisse der Schoa in Polen aus den Jahren 1944 bis 1947» zu veröffentlichen, einen Publikumsverlag suchte, musste er ernüchtert feststellen: «Die Reaktionen waren schnell und drastisch», nämlich rundum ablehnend.

NS-Zeit Die 652 Seiten umfassende Edition, herausgegeben von Frank, Wolfgang Benz und Barbara Distel, mit dem Titel Nach dem Untergang ist dann doch zustande gekommen, veröffentlicht in Kooperation von zwei kleinen, der Erforschung der NS-Zeit und ihren Folgen verpflichteten Verlagen: dem Metropol-Verlag in Berlin und dem Verlag Dachauer Hefte in München.

Bei der Buchvorstellung im Gasteig in München wies Ilse Macek, Sprecherin der Münchner Arbeitsgruppe von «Gegen Vergessen – Für Demokratie», darauf hin, dass Wolfgang Benz, 2012 vom Verein ausgezeichnet, sein Preisgeld eingebracht hatte, um «Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission» veröffentlichen zu können, nicht nur als Desiderat der Forschung, «sondern auch und vor allem der öffentlichen Aufklärung». Nichts Geringeres lag auch den Mitarbeitern der Zentralen Historischen Kommission, die nach dreijähriger Tätigkeit im 1947 gegründeten Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufging, am Herzen.

Schon im Sommer 1944 nahmen jüdische Intellektuelle im von der Roten Armee befreiten Lublin die Dokumentation der NS-Verbrechen auf. Immer mehr Archivare, Historiker, Publizisten, die mit knapper Not im Untergrund, im Lager oder als Partisanen überlebt hatten, kamen hinzu. Schließlich waren es an die 100 Aktive, die sich der «Spurensuche und Beweissicherung des Judenmords» widmeten. «Zwei Ziele wurden verfolgt», führte Benz in seinem Einführungsvortrag weiter aus, «zum einen die Unterstützung der Strafverfolgung der Verantwortlichen, zum anderen die Historiografie des Völkermordes».

Relikte Gesammelt wurden «Dokumente, Bücher, Erinnerungstexte, Interviews und materielle Relikte jüdischen Lebens – Kultgeräte, Gemälde, Skulpturen», Grundstock für das Museum, Archiv und die Bibliothek des Jüdischen Historischen Instituts in der ulica Tlomackie 3/5, wo sich vor der Okkupation die Warschauer Jüdische Bibliothek und das Institut für Judaistik befunden hatte.

Die Ergebnisse der ersten drei Jahre Forschungsarbeit in 25 «Filialen» von Krakau bis Bialystok mündeten in 39 Bücher und kleinere Schriften auf Polnisch und Jiddisch. Interviews mit 7000 Überlebenden hielten die unmittelbaren Erfahrungen und Beobachtungen fest. «Sie bilden aufgrund ihrer frühen Entstehungszeit», so betonte Benz, «besonders authentische Quellen der Erinnerung.»

Warum sind im deutsch- und englischsprachigen Raum diese jedermann zugänglichen Dokumente so wenig bekannt? In Deutsch wahrgenommen wurden gerade einmal Mordechai Gebirtigs Liederzyklus Es brennt und Leon Weliczkers Bericht über das «Sonderkommando 1005», das gezwungen war, Massengräber wieder zu öffnen, um die Spuren dieser Menschheitsverbrechen endgültig zu vernichten. Und zuletzt gab Feliks Tych, von 1995 bis 2006 Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, 2008 Erinnerungen von «Kindern über den Holocaust» heraus.

Berichte Ein Problem stellt die Sprachbarriere dar. Frank nahm sie, indem er die ausgewählten Schriften der Jüdischen Historischen Kommission übersetzte oder übersetzen ließ. Zwölf Berichte sind nun zugänglich, zwei wurden in München vorgestellt. Barbara Distel sprach über Rachel Auerbach und las aus deren sowohl poetischer wie peinvoller Reflexion Auf den Feldern von Treblinka. Frank stellte Ber Ryczywól und dessen Bericht Wie ich die Deutschen überlebte vor.

Unterschiedlicher hätten zwei Augenzeugenberichte, die doch nichts anderes tun, als eine kaum erträgliche, grausame Wirklichkeit wiederzugeben, nicht sein können. Auf der einen Seite die Gelehrte und Publizistin Rachel Auerbach (1903–1976), die auf Initiative von Emanuel Ringelblum, dem Initiator des Untergrundarchivs «Oneg Shabat», im Warschauer Ghetto eine Suppenküche organisierte und nach ihrer Flucht ihre Chronik über das Ghetto weiterführte.

«Am 7. November 1945 reiste sie», so resümierte Distel, «mit einer Delegation der Staatlichen Kommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen in Polen für vier Tage nach Treblinka». Was die Schriftstellerin einst so aufbrachte, dass sie über «Plünderer und Marodeure», ja «menschliche Schakale und Hyänen» zu schreiben hatte, muss man selbst lesen. Selten hat die Floskel, es könne einem das Herz brechen, solche Berechtigung wie hier.

Erlebnisse Auf der anderen Seite Ber Ryczywól, ein Gerer Chassid, der nur sein Gebetbuch kannte, ansonsten «kaum lesen und schreiben kann», wie seine Interviewerin Bluma Wasser – Ehefrau von Hersch Wasser, dem Sekretär des geheimen Warschauer Ghettoarchivs von Emanuel Ringelblum – festhielt. Darum konnte er seine Erlebnisse nur mündlich zu Protokoll geben.

Er überlebte, getarnt als polnischer Bettler, der über die Dörfer zog. Ständig unterwegs erlebte er den alltäglichen polnischen Antisemitismus, Denunziantentum, die Grausamkeit der deutschen Besatzer, die Hilfsbereitschaft Einzelner trotz eigener Not und die Unberechenbarkeit des Schicksals: «Ein Goj hat mich mit einem Stecken auf den Kopf geschlagen und geschrien: ›Jude geh heim!‹ Ich sage ihm: ›Was soll das? Ich habe nichts zu essen!‹ Da gibt er mir den Rat, ich soll sterben, damit es einen Antichristen weniger gibt, und schlägt mich.»

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