Gedenken

Späte Wahrheit

Am Alten Israelitischen Friedhof ruht Erwin Kahn sel. A. Sein Vor- und Nachname ist aufgeführt in einer dreireihigen Installation, die an neun Opfer erinnert, die aus dem KZ Dachau zurückgebracht wurden und dort ein Grab bekamen. Doch was Erwin Kahn wirklich zustieß, wurde erst mit dem Anbringen eines Erinnerungszeichens in der Hans-Sachs-Straße 18 öffentlich bekannt.

Das Schicksal dieses frühen jüdischen Todesopfers trieb den Pfarrer und Historiker Björn Mensing schon lange Zeit um. Zuständig für die Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau weiß er um viele Einzelschicksale und um die Grausamkeit der Zuständigen im ersten KZ auf deutschem Boden, das unter dem Titel »Schule des Terrors« firmierte. Von Erwin Kahn gibt es kein Foto, und das, was auf dem Grabstein über ihn zu lesen ist – »umgekommen im KZ Dachau« –, entspricht nicht der Realität. Es war weitaus schlimmer.

klinikum Am 16. April, dem 90. Todestag Kahns, fand im Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in der Nußbaumstraße eine Gedenkveranstaltung statt. In der ehemaligen Kirche der Barmherzigen Schwestern, heute nach ihrem Erbauer Friedrich von Gärtner-Saal benannt, kam man zusammen.

Der Internist Markus M. Lerch, Vorstandsvorsitzender des LMU-Klinikums, sprach über einstige Kollegen: vorbildliche wie den gläubigen Katholiken Max Lebsche, der 1936 aus dem Staatsdienst entlassen wurde, und Walter Seitz, der von 1947 bis 1973 Direktor der Medizinischen Poliklinik war und während seiner Tätigkeit in Berlin in der NS-Zeit in den Untergrund hatte gehen müssen, nachdem er als Widerstandshelfer denunziert worden war.

Aber auch Täter wie Alfred Schittenhelm wurden genannt, der sich als Direktor der Medizinischen Uni-Klinik geradezu an einem »Wettstreit der Rassisten« in München beteiligte. Oder der Direktor der Chirurgischen Klinik, Erich Lexer, der »glühender Bewunderer Hitlers, ehrenhalber Obersturmbannführer und einer der wichtigsten Förderer der NS-Sterilisationsgesetze für Erbkranke« war, wie Lerch referierte. In dieses Krankenhaus geriet Erwin Kahn.

verhaftung Doch der Reihe nach: Am 12 September 1900 wurde Kahn als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in München geboren. 1928 heiratete er Eva Euphrosina Vessar. Das Paar wohnte in der Hans-Sachs-Straße 18, im Glockenbachviertel, wo viele jüdische Familien zu Hause waren. Wie Björn Mensing berichtete, wurde Kahn am 11. März 1933 auf offener Straße von einem SA-Mann, der sich als »Hilfspolizist« betätigte, verhaftet und ins Polizeigefängnis in der Ettstraße eingeliefert.

Drei Tage später wurde er ins Gefängnis Stadelheim verlegt, von wo es am 22. März ins neu errichtete KZ Dachau ging. Aus drei Mitteilungen an seine Frau und Eltern erfährt man, worum Kahn bat: praktische Dinge wie Socken und Zahnpasta. Mangels eines Grundes für seine Verhaftung hoffte er auf Freilassung.

Das Konzentrationslager Dachau wurde als »Schule des Terrors« zum Vorbild für weitere KZs.

Mit dem Einzug von SS-Männern anstelle der Polizei als Wachmannschaften am 11. April 1933 begann der offene Terror. Am 12. April fand das erste Massaker an jüdischen Häftlingen statt. Es traf die aus Franken eingelieferten, als Kommunisten aktiven Rudolf Be­nario, Ernst Goldmann und Arthur Kahn – und Erwin Kahn aus München wegen des gleichen Nachnamens, denn politisch war er nie tätig gewesen.

tötungsversuch Die Verhaftung und der Tötungsversuch durch zwei verschiedene NS-Schergen sind vermutlich nur dem Umstand geschuldet, dass Kahn beiden bekannt war. Die Erschießung überlebte, für tot gehalten, allein Erwin Kahn. Mit zwei Kopfschüssen kam er zunächst ins Dachauer Krankenhaus und dann zur Operation ins Klinikum an der Nußbaumstraße. Am Karsamstag konnte ihn seine Frau besuchen. Was er ihr berichtete, gab die Witwe am 4. Februar 1953 beim Landgericht München II zu Protokoll.

Am 16. April, Erew Pessach 5693, erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann um 4.30 Uhr morgens gestorben sei. Rund 90 Jahre später ließ Mensing den internen Obduktionsbericht von einem Experten sichten. Es stellte sich heraus, dass Kahn weder den Schussverletzungen noch der schweren Operation erlag, sondern erwürgt worden war. Damit war der unliebsame Zeuge beseitigt, der die Pressemeldung hätte widerlegen können. Da war nämlich vom Tod von vier Häftlingen bei einem Fluchtversuch die Rede gewesen.

Bevor am ehemaligen Wohnsitz Erwin Kahns eine Erinnerungstafel an der Hauswand angebracht wurde, hatte als Vertreter der Landeshauptstadt Stadtrat Beppo Brem das Wort. Dass Kahn in der Obhut der Polizei, einer Institution, »die eigentlich für den Schutz der Bürger stehen müsste«, und »an einem Ort ermordet wurde, an dem wir alle besonders schutzlos sind, nämlich im Krankenhaus«, traf ihn sichtlich tief. Grußworte sprachen ferner die Schoa-Überlebenden Charlotte Knobloch und Ernst Grube.

Für Grube ist es immer noch eine bittere Tatsache, dass politischer Widerstand viel zu lang marginalisiert wurde. Für Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, macht das Schicksal Erwin Kahns »auf schreckliche Weise anschaulich, wie schnell die Brandmauern eines demokratischen Staates geschleift werden können«. Mit jedem Übergriff sei eine weitere rote Linie überschritten und die Demokratie ausgehöhlt worden. Tabubrüche seien keine harmlose politische Spielerei. »Sie sind«, so Knobloch, »ein Spiel mit dem Feuer. Die Gesellschaft einer Demokratie darf nicht zusehen. Sie muss löschen«.

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