Nachruf

So viel Liebe und Zärtlichkeit

Evelina Merová

Evelina Merová, geb. Landová, eines der überlebenden »Mädchen von Zimmer 28«, mit der ich seit 1998 verbunden bin, wird am 13. Februar in Prag beigesetzt. Sie wurde 93 Jahre alt.

Es hat mich tief getroffen, als ihr Sohn Viktor Naimark am Vormittag des 8. Februars die traurige Nachricht übermittelte. Ich weiß, wie sehr Viktor seine Mutter liebt, habe dies immer gespürt, wenn ich sie gemeinsam erlebte oder wenn sie von ihm sprach - oder er von ihr. Etwas Geheimnisvolles, eine liebevolle Vertrautheit verband Mutter und Sohn und auch Mutter und Tochter Irene, die in St. Petersburg lebt. Ein Verstehen ohne Worte. Da war Sanftheit und Nachsicht im Umgang miteinander.

Das »Geheimnisvolle«- es klingt in Viktors Worten an, die in seinem Nachwort zur Autobiografie seiner Mutter, »Lebenslauf auf einer Seite«, zu finden sind: »Jetzt, da ich erwachsen bin, bewundere ich mehr und mehr, dass meine Mutter trotz all der überlebten Gräueltaten und Grässlichkeiten so viel Liebe und Zärtlichkeit für uns aufbringen konnte.«

Ein Herz aus Auschwitzer Erde

Trotz all der überlebten Gräueltaten und Grässlichkeiten - Schlimm genug, was Evelina Landová, geboren am 25. Dezember 1930 in Prag, erleben musste, nachdem das NS-Regime am 15. März 1939 ihre geliebte Heimat okkupierte, und Juden Schritt für Schritt entrechtet und schließlich deportiert wurden. Am 28. Juni 1942 musste die Familie Landa auf Transport ins Ghetto Theresienstadt. Bis zum Dezember 1943 lebte sie im Mädchenheim L 410, im Zimmer 28. Noch erlebte die damals 11- bis 12-Jährige das Zimmer 28 als eine Art von Schutzraum, mit dem sie Jahrzehnte später auch gute Erinnerungen verbinden wird. Doch mit dem Transport am 15. Dezember 1943 begann eine Odyssee durch die Hölle. Ihren 13. Geburtstag erlebte sie in dem von Fredy Hirsch geleiteten Kinderblock im Theresienstädter Familienlager in Auschwitz-Birkenau. Ich werde nie vergessen, wie sie mir vom 13. Geburtstag ihres Freundes Harry erzählte: »Aus Auschwitzer Erde habe ich ihm ein kleines Herz modelliert und darin geschrieben: »Harry zum Geburtstag von Eva. 6. März 1944.«

Am 7. März 1944 traf sie die schockierende Nachricht vom Tode von Fredy Hirsch - er war für sie, wie für viele Theresienstädter Kinder, ein Idol. Am 8. März 1944 wurde fast der gesamte Septembertransport in den Gaskammern ermordet, darunter vier Mädchen, die mit ihr im Zimmer 28 gelebt hatten: Pavla Seiner, Olile Löwy, Zdenka Löwy, Ruth Popper. Am 13. April starb ihr Vater Emil Landa. Evelinas Mutter Ilse überlebte mit ihr die Selektion im Juli 1944. Sie kamen ins KZ Stutthof, dann in ein Arbeitslager in Guttau. Dort starb ihre Mutter. »Ich glaube, es war der Tiefpunkt meines Lebens. Und doch kann ich nicht sagen, was ich fühlte oder dachte. Wir lebten doch in einem Ausnahmezustand. In einem Schockzustand ...«

Ein halbes Jahrhundert später

Es war Anfang 2005 in Berlin-Kreuzberg. Die ein halbes Jahr zuvor in Schwerin erstmals gezeigte Ausstellung »Die Mädchen von Zimmer 28″ wurde an der Reinhardswald-Grundschule gezeigt. Evelina war zu Gast. Sie stellte sich den Fragen von etwa 10- bis 11-jährigen Kindern. Fragen und Antworten liefen ab wie ein schnelles Ping-Pong-Spiel. Die Kinder hatten wachsende Freude daran, immer mehr Fragen zu stellen, und Evelina antwortete immer kurz und knapp, sachlich, manchmal nur mit einem bestimmten Ja oder Nein. »War das schlimm für Sie, als Ihre Mutter starb?«, fragte ein Mädchen. »Ja«, sagte Evelina und lächelte, wie ich dies so oft an ihr erlebte, wenn eine Frage auf das Unsagbare traf.

Zwischen 2014 und 2015 arbeitete ich intensiv mit Evelina an ihren autobiografischen Erinnerungen, die ich im März 2016 in der Edition Room 28 unter dem Titel »Lebenslauf auf einer Seite« herausbrachte. In ihrem Manuskript entdeckte ich Brüche, Leerstellen, zuweilen auch allzu knappe, fast schon ein wenig, sich selbst gegenüber empathielose Schilderungen von Erlebnissen, die furchtbar gewesen sein mussten. Ich fragte nach, immer wieder, vorsichtig, behutsam. Mir schien, als ob manche ihrer Erlebnisse von einer schützenden Eisschicht überlagert waren. Ich wollte sie durchbrechen, wollte so etwas wie eine Erschütterung, jedenfalls eine Seelen-Schwingung erzeugen, um diese dann dem Text ›einzuhauchen‹ und ihn ein wenig zu modellieren, so wie Evelina das Herz aus Auschwitzer Erde für ihren Freund Harry modellierte.

Während dieses Arbeitsprozesses in den Jahren 2015-2016 fühlte ich mich Evelina so nahe wie nie zuvor. Ich erfuhr Dinge, von denen ich bislang nichts wusste, obgleich ich ab 1998 viele Gespräche mit ihr und ihren Freundinnen für das Buch Die Mädchen von Zimmer 28 geführt hatte. Ich wusste eines genau: Ging es um Fakten, um Berichte über Geschehnisse, von denen sie wusste, war Verlass auf sie. Sie war um Sachlichkeit und Richtigkeit bemüht und schwieg, wenn sie etwas nicht wusste. Jetzt aber erfuhr ich, dass und wie sie schweigen konnte, auch und gerade dann, wenn sie etwas wusste.

Mehr und mehr verstand ich, dass sich bei Evelina ganz feine Mechanismen herausgebildet hatten, um das Unsagbare, nicht nur ihrer selbst wegen, sondern auch anderen zuliebe, zu umschiffen; um mit dem Unsagbaren leben zu können. Schweigen gehörte dazu. Es war ein bewusstes Schweigen, oft verbunden mit einem Anflug eines Lächelns. Sie hatte ein berührendes, einnehmendes, manchmal ein wenig verschmitztes Lächeln - gerade auch in solchen Momenten. Ein schönes Lächeln. Dabei wurde es oft ganz still. Und die Frage blieb im Raum hängen, was in ihr vorging? Welche Bilder und Gedanken da wohl in ihr auflebten?

Poesie soll sein...

Als kleines Mädchen führte Evelina, wie viele andere Kinder, ein Poesiealbum. Die Zeilen ihres Großvaters hat sie nie vergessen: Poesie soll sein, was in diesem Büchlein steht. Poesie soll alles sein, was in deinem Leben geschieht. »Der Wunsch meines Großvaters war wunderbar«, schreibt sie in der Einleitung ihrer Erinnerungen. »Leider - sein Wunsch erfüllte sich nicht. Was in meinem Leben geschah, war keine Poesie....«

Und doch, die Sehnsucht nach Poesie muss stark in ihr, über alle Gräueltaten und Grässlichkeiten hinweg weiter gewirkt haben. So stark, dass sich diese Sehnsucht auf ihre Kinder übertrug. Wie sonst ist es zu erklären, dass Viktor Naimark, der im Jahre 2000 von St. Petersburg nach Frankfurt a. M. übersiedelte, eine Kunst voller Poesie schafft?

Keine naive Poesie. Eine verstörende Poesie. Eine Poesie, die um die Gräueltaten und Grässlichkeiten weiß und doch erfüllt ist von Licht und Liebe.

Der Nachruf erschien zuerst auf dem Blog room28.net. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin veröffentlichen wir ihn auch hier.

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