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So haben Münchner Juden den Anschlag in ihrer Stadt erlebt

Schock am Donnerstagmorgen vergangener Woche. Während in München die Gedenkveranstaltung anlässlich des Attentats auf die israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 abgehalten wurde, verübte ein 18-jähriger Islamist einen Anschlag auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum.

Der Täter feuerte mit einem Jahrzehnte alten Schweizer Militärgewehr neun Schüsse ab. Im Anschluss schoss er auf mehrere Polizisten. Beamte erwiderten das Feuer und töteten den Mann mit mehreren Schüssen. Der Angreifer starb noch am Tatort. Er stammt aus Österreich und hat bosnische Wurzeln. Nach Auskunft der Ermittler handelt es sich um ein antisemitisches Tatmotiv.

Jüdinnen und Juden, die in München leben, sind entsetzt und in Sorge. Wir haben nachgefragt. Aus Sicherheitsgründen wollen nicht alle abgebildet werden.

Yaron Jacobs (46), Manager

»Für den Fall, dass du hörst, was heute in München passiert ist – mach dir keine Sorgen, Papa arbeitet heute von zu Hause«: Das war die Nachricht, die mich zuerst auf das aufmerksam machte, was vergangene Woche Donnerstag über München hereingebrochen ist. Für jemanden, dessen Vater nicht bei der Feuerwehr oder in einem ähnlich aufregenden Beruf arbeitet, wäre eine solche Nachricht ziemlich überraschend. Allerdings nicht so sehr, wenn man 2024 Jude in Deutschland ist. Seit Hamas-Terroristen die unvorstellbaren Gräueltaten vom 7. Oktober 2023 in Israel verübten, hatten auch wir Juden im Ausland fast ein Jahr Zeit, uns an Eilmeldungen über antisemitische Vorfälle und Angriffe zu gewöhnen – nicht nur in Israel, sondern auch direkt vor unserer Haustür, so wie jetzt in München.

Dank des mutigen Einsatzes der Münchner Polizei wurde der radikalisierte Möchtegern-Terrorist in diesem Fall gestoppt, bevor er etwas Schlimmes anrichten konnte. Auch in München gibt es aber noch viele andere, die Schlimmes anrichten, jene nämlich, die im Irrglauben eine gerechte Sache zu unterstützen, in Wahrheit genau jenen Terroristen in die Hände spielen, die sich explizit gegen die Werte eines freien Miteinanders wenden, für das die Stadt München eigentlich steht.

Die Leute, die auf einmal meinen, es sei cool, ein »Palästinenser-Tuch« zu tragen und »Free Gaza« auf Wände zu schmieren – und sich damit solidarisieren und so eine menschenfeindliche, frauenfeindliche, schwulenfeindliche, judenfeindliche Terrorgruppe unterstützen; jene, die »From the River to the Sea«-Parolen rufen und damit dem einzigen Land im Nahen Osten, in dem alle eben genannten Gruppen tatsächlich Freiheit genießen können, die Legitimität absprechen. Jene, die diese kleinen Sticheleien inzwischen tagtäglich machen, zerschießen vielleicht nicht die Fenster des israelischen Konsulats und des NS-Dokumentationszentrums, zerbrechen aber die Herzen echter Münchner.

Michael Movchin (27), IT-Unternehmer

Plötzlich ploppten die Nachrichten auf meinem Handy auf, in denen von Schüssen in München die Rede war. Zu dem Zeitpunkt war ich beruflich knapp 600 Kilometer entfernt in Hamburg. Die Hinweise auf einen Terroranschlag auf das israelische Generalkonsulat oder das NS-Dokumentationszentrum verdichteten sich.

Als junger Jude, der in dieser Stadt aufgewachsen ist, fühlten sich diese Nachrichten so an, als sei mein Zuhause doppelt angegriffen worden. Inzwischen wissen wir, dass der Anschlag aller Wahrscheinlichkeit nach dem israelischen Generalkonsulat galt und mutmaßlich islamistisch motiviert war.

Es schmerzt zu sehen, dass diese mörderische Gewalt in letzter Zeit verstärkt den Weg in unsere Innenstädte findet. Wir müssen entschlossen dagegenhalten, um alle Betroffenen von Islamismus zu schützen, aber ohne rassistische Vorverurteilungen ganzer Bevölkerungsgruppen.

Joëlle Lewitan (25), Psychologiestudentin

Aus der sicheren Ferne meines Wiener Zuhauses habe ich die Eilmeldung erhalten: Schüsse vor dem israelischen Generalkonsulat in München. Meine erste Reaktion: ungläubiges Kopfschütteln.

Nicht etwa, weil mich derartige Nachrichten überraschen – das tun sie schon länger nicht mehr. Meine Ungläubigkeit rührte eher aus einem Zustand der Erschöpfung. Nein, bitte nicht, nicht noch eine schlechte Nachricht. Diese Eilmeldung war der krönende Abschluss einer Woche voller erschütternder Ereignisse: erst die Ermordung der sechs Geiseln, dann die Thüringer Wahlergebnisse und schließlich das. Wenn so etwas in der eigenen Stadt passiert, trifft es einen besonders – eine ab­strakte Gefahr wird greifbar.

Das seit dem 7. Oktober 2023 anhaltende Gefühl der konstanten Alarmbereitschaft wird bestätigt und verstärkt. Dass der Anschlagversuch die Gedenkfeier an die ermordeten israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 unterbrach, hat für mich etwas Bezeichnendes für die Zeit seit dem terroristischen Anschlag der Hamas am 7. Oktober: Die Angst vor dem, was als Nächstes passieren könnte, raubt uns eine psychologische Notwendigkeit – innezuhalten und in Sicherheit zu trauern.

Ya’ir Magall (42), Filmemacher

Ich bin freiberuflicher Filmemacher und war an jenem Tag bei einem Meeting im Europäischen Patentamt im zehnten Stock. Während des Gesprächs erwähnte jemand den Anschlag auf das israelische Generalkonsulat. Vom zehnten Stock aus hatten wir einen guten Überblick und sahen den Hubschrauber, der unterwegs zum Konsulat war. Ich schaute sofort auf meinem Handy nach, was passiert war, las von den Schüssen und dem jungen Attentäter.

Was soll ich sagen? Meine Sorgen sind nun größer geworden.

Ich mache mir Gedanken, ob noch mehr passieren wird. Zwar werden die Synagogen von der Polizei und den Sicherheitsmitarbeitern bewacht, aber reicht das? Ich fühle mich dort nicht mehr sicher. Wenn ich in der Synagoge bin, denke ich über Fluchtwege und mögliche Verstecke nach. Oder gibt es einen Bombenangriff auf den Jakobsplatz? Dennoch hoffe ich, dass nichts passiert und alles gut wird.

Eric Smutny (54), selbstständiger Berater

Ich erfuhr über einen privaten Kanal von dem Anschlag auf das israelische Generalkonsulat. Daraufhin verfolgte ich intensiv die Medienberichte.
Die Polizisten haben großartig reagiert und ihr Leben riskiert – das hat mich beeindruckt. Ich bin ihnen dankbar. Der Pass eines Attentäters spielt für mich keine Rolle. Entscheidend ist, dass es Täter gibt, die mit einer Terrororganisation sympathisieren und anscheinend eine Gehirnwäsche hinter sich haben. Es muss sehr viel mehr für unsere Sicherheit getan werden.

Sobald wir die videoüberwachten Gebäude verlassen, könnten wir das nächste Opfer sein. Vor allem als Vater mache ich mir Gedanken. Denn nun sind die Ferien zu Ende, und mein Kind hat jeden Morgen einen Schulweg vor sich. Es wundert mich, dass der Attentäter so weit gekommen ist. Denn es handelt sich um einen Hochsicherheitsbereich, wie auch der Jakobsplatz und die Bethäuser es sind. Bei der Eröffnung des Konsulats vor einigen Jahren war ich dabei. Die Sorge und die Angst bleiben.

Das ist ein Zustand, mit dem wir leben müssen. Seit 2015 hat sich unsere Situation dramatisch verändert. Damals sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel den berühmten Satz: »Wir schaffen das.« Nun weiß ich, dass wir uns selbst schützen müssen.

David Weissmann (23), Informatikstudent

Durch eine Nachricht von einem Kollegen habe ich gegen 11.30 Uhr von dem Anschlag gelesen. Da war ich bei der Arbeit. Wir waren sehr besorgt, weil dieser Angriff in München geschah und sich in eine Reihe anderer Anschläge einreiht, wie zum Beispiel in Solingen. Das Gefühl nahm aber im Laufe des Tages ab, insbesondere weil er glimpflich ausgegangen ist.

Der Anschlag war eine »Erinnerung« daran, dass der Schutz jüdischer und israelischer Einrichtungen leider nötig ist. Wir sollten uns jedoch nicht in Angst verstecken, sondern besser auf unsere Umgebung achten und uns bewusst sein, dass ein Angriff im öffentlichen Raum prinzipiell jederzeit möglich ist.

Wir brauchen definitiv mehr Sicherheit. Der Anschlag in München konnte glücklicherweise verhindert werden, weil die Polizei schnell und angemessen reagiert hat. Es wäre gut, wenn sie bei jedem Angriff entsprechend reagieren würde. Und am besten wäre es natürlich, wenn der Angreifer vorher aufgehalten werden würde und es erst gar nicht zum Schusswechsel käme.

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Aviva Lapke (22), Studentin für Human Resource Management und Arbeitsrecht

Der Tag des Anschlags in München hat mich emotional aufgewühlt. Zuerst kam dieses Gefühl der Unsicherheit – etwas Unfassbares passiert in der eigenen Stadt. München war für mich immer ein sicherer Ort, eine Stadt, in der solche Ereignisse fern schienen. Doch an diesem Tag wurde mir klar, dass selbst hier nichts mehr selbstverständlich ist. Die Vorstellung, dass jemand bewaffnet und voller Hass durch meine Stadt zieht, ist erschreckend. Wenn so etwas in einer Stadt wie München passieren kann, dann muss das doch etwas bedeuten, dachte ich mir. Für mich steht fest: Wir brauchen strengere Kontrollen, nicht nur innerhalb der Städte, sondern auch an den Grenzen. Es darf nicht so leicht sein, mit solchen Absichten nach Deutschland zu gelangen. Die Sicherheit, die ich einst als selbstverständlich empfand, muss neu überdacht werden. Denn dieser Anschlag hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie fragil sie ist.

Zusammengestellt und aufgezeichnet von Philipp Peyman Engel und Christine Schmitt

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