Jom Haschoa

Sechs Kerzen für die Toten

Viele jüdische Gemeinden haben am Jom Haschoa digital an die sechs Millionen während der Schoa ermordeten Juden erinnert. In Frankfurt gedachte die Jüdische Gemeinde bei einer Trauerfeier in der Westend-Synagoge im kleinsten Kreis der Toten. »Jeder Mensch hat einen Namen / Ihm verliehen von G’tt / Und ihm gegeben von seinen Eltern« – so beginnt das Gedicht und Lied »Lechol isch jesch schem« der israelischen Dichterin Zelda. Kantor Yoni Rose sang es, auf der Gitarre begleitet, in der Gedenkstunde der Gemeinde für die Opfer des Holocaust am Vorabend zum Jom Haschoa. Wegen der Pandemie wurde das Gedenken in der Westend-Synagoge ohne Publikum aufgezeichnet und am 8. April im Internet übertragen.

Gemeinderabbiner Avichai Apel eröffnete die Gedenkstunde mit einem Psalm. Salomon Korn, Vorstandsvorsitzender der Frankfurter Gemeinde, stellte die Schoa-Überlebenden in den Mittelpunkt seiner Ansprache. Er würdigte die »Intensität und eindeutige, gewaltige Symbolik« des Gedenkens in Israel an Jom Haschoa. »Sie trotzt mit ihrer enormen Kraft dem steten Versuch der Abschwächung, Umdeutung und Verneinung seitens der weltweit mehr denn je agierenden Antisemiten und Holocaust-Leugner«, sagte Korn.

Wahrnehmung Korn beschrieb den Wandel in der Wahrnehmung der Schoa-Überlebenden in Israel. Während jenen Einwanderern, unter denen Ghettokämpfer und Anführer der Widerstandsbewegung waren, Bewunderung und ein Heldenstatus zuteilwurde, schlug laut Korn der Mehrheit der europäischen Überlebenden zunächst Ablehnung entgegen. Erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 und den als lebensbedrohlich empfundenen israelisch-arabischen Kriegen habe sich der Blick auf die Schoa und das Schicksal der Überlebenden zu wandeln begonnen. Sie hätten von nun an Wertschätzung gespürt, so Korn. Der 1951 ins Leben gerufene Jom Haschoa gewann überhaupt erst an Bedeutung.

»Je näher der endgültige Abschied von Schoa-Überlebenden rückt, desto stärker wächst das Bewusstsein um den unschätzbaren Wert ihres Wissens.«

Salomon Korn

»Je näher der endgültige Abschied von ihnen rückt, desto stärker wächst das Bewusstsein um den unschätzbaren Wert ihres Wissens, um die authentische, am eigenen Leib erlittene Erfahrung tiefster menschlicher Abgründe«, würdigte Korn die Zeitzeugen. Das seit nunmehr einem Jahr grassierende Coronavirus sei unbarmherzig: »Es schert sich nicht um die Bedeutung, die die Holocaust-Überlebenden im Kampf gegen Antisemitismus und Intoleranz haben.« Schätzungen zufolge seien in Israel rund 17.000 Überlebende der Schoa an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben, so Korn. »Durch diesen unschätzbaren Verlust ist die Menschheit noch früher als erwartet gefordert, dem Appell ›Nie wieder‹ Taten im Sinne der Zeitzeugen des Grauens folgen zu lassen«, sagte der Gemeindevorsitzende.

Schüler und Schülerinnen der I. E. Lichtigfeld-Schule trugen die jeweils eigenständig vorbereiteten und gestalteten Porträts von sechs exemplarischen Lebensgeschichten von Schoa-Überlebenden und ihren Familien vor. Begleitet wurden die eindringlichen Berichte von historischen Karten, Fotografien und Dokumenten. Teilweise handelte es sich um Biografien eigener Verwandter. So erzählte der Achtklässler Ariel W. die Lebensgeschichte seines 96-jährigen Großvaters Simon Wyrobnik, der das Ghetto in Lodz und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte.

Die Geschichte der 1929 in Wien geborenen Eva Schloss, die im Amsterdamer Versteck Anne Frank begegnete und Auschwitz überlebte, wurde von dem Achtklässler Tim S. vorgetragen. Heute lebt sie in London und engagiert sich als Zeitzeugin gegen das Vergessen, berichtete der Schüler.

In Israel sind rund 17.000 Schoa-Überlebende an Corona gestorben.

Bereits zum dritten Mal nahm die Frankfurter Gemeinde mit ihrem Gedenken auch an der internationalen Aktion »Yellow Candle« teil. »Es ist unsere Verantwortung, das Leid der Opfer dem Vergessen zu entreißen, ihrer Namen und Schicksale jenseits der unfassbaren Opferzahl zu erinnern«, hieß es in der Ankündigung. Hierbei stand für Frankfurt das namentliche Gedenken an die etwa 12.000 deportierten und ermordeten Frankfurter Juden im Fokus des wegen der Pandemie vor allem digital umgesetzten Projekts.

Auf der Webseite yellowcandleffm.de hatten Interessenten die Möglichkeit, digitale Kerzen des Gedenkens, sogenannte »Yellow Candles«, zu entzünden. Jede Kerze ist einer Person gewidmet, deren Geburtsdatum, Todesort und -datum, soweit bekannt, angegeben werden. Besucher können jede Kerze anklicken und sehen dann die Lebensdaten eines deportierten und ermordeten Frankfurter Juden. Über 5000 digitale Kerzen des Gedenkens wurden bisher gezündet. Laut der Gemeinde bleibt die Seite yellowcandleffm.de auch nach Jom Haschoa aktiv.

Ihren Ausklang nahm die Jom-Haschoa-Gedenkstunde in der Westend-Synagoge mit den von Kantor Yoni Rose vorgetragenen Gebetssentenzen »El Male Rachamim« und »Ani Ma’amin«. Gemeinde-rabbiner Julian-Chaim Soussan sprach das Kaddisch.

Budge-Heim In der Synagoge des Budge-Heims der Jüdischen Gemeinde Frankfurt waren sechs Kerzen von Bundeswehrsoldaten entzündet worden. Seit Monaten unterstützen Soldaten einer Einheit zur Abwehr von biologischen und chemischen Angriffen das Pflegepersonal im Testzentrum des Budge-Heims. Zwischen den Einwohnern und ihnen sind teils enge Freundschaften entstanden. Am Jom Haschoa war es den Soldaten ein Bedürfnis, beim stillen Gedenken dabei zu sein: in Uniform in der hauseigenen Synagoge.

Der Anblick von jungen Männern in deutscher Uniform mag dabei ungewohnt gewirkt haben. Die anwesenden Bewohner, die pandemiebedingt mit Abstand zu den Soldaten und bei offenem Fenster weiter hinten in der Synagoge saßen, waren jedoch ergriffen; einige gar stolz auf die jungen Leute, als sie Kerzen zum Gedenken an die Schoa anzündeten und anschließend Haltung annahmen. »Wie in Israel«, flüsterte eine Seniorin und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

Insgesamt rund 100 Personen beteiligten sich den ganzen Tag über im Budge-Heim an dem Gedenken.

Den ganzen Tag über konnten Menschen den Gebetsraum betreten und sich beim Besuch abwechseln, sodass sich zeitgleich immer nur sechs Personen im Raum befanden. Insgesamt zählte Heim-Rabbiner Andrew Steiman mehr als 100 Personen beim stillen Gedenken.

Namenslesung Auch in Leipzig und Dresden wurde am Donnerstag an die Opfer des Holocaust erinnert. Coronabedingt fanden auch hier Veranstaltungen nur im kleinen Rahmen und zum Teil digital statt. In Leipzig beteiligten sich der Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde, Küf Kaufmann, und Sachsens Landesrabbiner Zsolt Balla an dem Gedenken. Auf dem Leipziger Marktplatz wurden die Namen von NS-Opfern verlesen. Bei der Gedenkveranstaltung im Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus erinnerte Kaufmann an die zahlreichen unschuldig ermordeten Juden. »Halten Sie bitte für eine Minute inne«, appellierte er. Zugleich rief er zum »heftigen Widerstand gegen jede Art des blinden menschenfeindlichen Hasses« auf.

Vor der Dresdner Kreuzkirche wurden die Namen von fast 2000 in der NS-Zeit ermordeten und verschollenen Dresdner Juden verlesen. Die traditionell am 27. Januar abgehaltene Zeremonie war wegen der Pandemie auf den 8. April verlegt worden. Zu der Gedenkveranstaltung lädt jährlich die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ein.

Verbundenheit Die Synagogen-Gemeinde Köln erinnerte per YouTube-Video an die Toten der Schoa. Mit den Worten »Die Erinnerung an die Schoa tragen wir in uns. Wir gedenken der Opfer, wir vergessen sie nie. In unserer Erinnerung sind wir in Gedanken miteinander verbunden« forderte die Gemeinde auf, sich einzuwählen. Gemeinderabbiner Yechiel Brukner hielt die Ansprache. Es folgte »Ani Ma’amin«. Dabei wirkten Gemeindekantor Mordechai Tauber und Moti Ben David am Klavier mit.

In Bielefeld konnten sich Interessierte und Mitglieder der Jüdischen Kultusgemeinde zum Abendgottesdienst und Gedenken am Vorabend des Jom Haschoa ab 19 Uhr anmelden. Der Gottesdienst fand als Hybridveranstaltung statt, sodass jeder entscheiden konnte, ob er in die Synagoge kommen oder das Gedenken zu Hause online verfolgen wollte.

(mit epd und einem Beitrag von Elisabeth Heinrich)

Potsdam

Kein Café, keine Besichtigungen in der neuen Synagoge

Wo liegt der Grund für diese Entscheidung?

 06.12.2024

Köln/Kürten

Lob für Gründung des Verbands Jüdischer Journalisten

Die Gesellschaft Katholischer Publizisten bietet JJJ Zusammenarbeit und Unterstützung an

 06.12.2024

Potsdam

Wo Rabbiner lernen

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte mit einer Feierstunde an ihren Namensgeber

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Holocaustüberlebende

Esther Bejarano vor 100 Jahren geboren

Sie spielte im »Mädchenorchester« in Auschwitz und überlebte die Schoa

von Leticia Witte  05.12.2024

Interview

»Leuchtturm der Stadt«

Barrie Kosky über sein Judentum, die jüdische Geschichte der Komischen Oper Berlin und die Frage, was die Kürzungen im Bauetat für das Haus bedeuten

von Christine Schmitt  05.12.2024

München

Ein Gebäude von Worten

Die preisgekrönte israelische Dichterin Agi Mishol war zu Gast im Lyrik Kabinett

von Nora Niemann  03.12.2024

Berlin

Koscher übernachten

lan Oraizer renovierte eine Villa und baute sie zu einem Hotel um, das religiösen Standards genügt. Sein Haus ist auf Wochen ausgebucht. Ein Ortsbesuch

von Christine Schmitt  01.12.2024

Köln

Für die Zukunft der Kinder

Bei der WIZO-Gala konnten 529 neue Patenschaften gewonnen werden

von Ulrike Gräfin Hoensbroech  01.12.2024

Porträt der Woche

Angst lässt sich lindern

Lisa Strelkowa studiert Psychologie und macht ein Praktikum in einer Tagesklinik

von Brigitte Jähnigen  01.12.2024