Biografie

Schöneberg, Sydney, Neukölln

Rot ist es, schwer, an den Ecken hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die Seiten sind weiß-gelb, das Leben ordentlich in Kapitel unterteilt. Es ist das Leben von Frank Lucas, dem Großvater von Aaron Lucas. Und jenes Leben in diesem roten Buch, das die etwas lakonische Aufschrift »Some Memories of my Life« trägt, hält Aaron fest im Arm. Auch an diesem Vorsommertag in Schöneberg in der Landshuter Straße. Es ist eine dieser unauffälligen Stadtlinien mit Fünfstöckern und Quadrat-Balkonen. Eingeklemmt zwischen Bayerischem Platz und Motzstraße.

Dort, in der Nummer 34, kam am 25. Februar 1927 Franz Lucas zur Welt. Vor einem gekachelten Hauseingang in ausgewaschenem 70er-Jahre-Türkis bleibt Aaron stehen. »Es fühlt sich schon merkwürdig an«, sagt der 28 Jahre junge Regisseur. Stille und das Gefühl, als käme Franz für einen kurzen Moment aus der Vergangenheit um die Ecke.

ANIMATION »Some Memories of my Life« – was so nebenbei gesagt klingt, ist die Grundlage für Aarons Dokumentarfilm Iʼll be Frank, in dem er sich mit dem Leben seines Großvaters auseinandersetzt. Als Aaron Lucas die Autobiografie zum ersten Mal richtig bewusst las, wusste er, dass er einen Film darüber machen wollte. »Ich dachte zuerst an eine Animation mit Voiceover, aber während der Recherche wurde mit klar, dass auch meine Familie und ich darin vorkommen müssten.« Ende 2019 begannen Lucas und seine Freundin Eloise damit, die Doku zu produzieren.

Aaron und seine Geschwister haben einen deutschen Pass.

Es sollte ein langer, ein emotionaler Weg bis hin zum fertigen Film werden. Ein Weg durch das Leben von Franz, dessen Familie in Sobibor ermordet wurde. Der sich nach dem Krieg auf ein Schiff nach Australien begab und sich auf der wochenlangen Reise in Frank umbenannte. Der seine Frau, die auch aus Deutschland kam, in Australien kennenlernte. »Meine Oma und mein Opa«, sagt Aaron.

Und wenn er diese beiden Wörter ausspricht, dann klingt es so selbstverständlich, wie Kinder die Großeltern nun einmal nennen. Allerdings nicht unbedingt in Australien. »Ich dachte, das seien zwei von den vielen niedlichen Namen, die man für Großeltern hat. Erst, als ich in Deutschland mitbekam, wie viele Kinder ihre Großeltern ebenfalls Oma und Opa nannten, dachte ich: Moment, das sind doch ›meine‹.«

SPRACHE Dass das deutsche Wörter waren, war ihm nicht bewusst. Es sind Details wie diese, denen Aaron im Laufe der Arbeit zu seinem Film und im Laufe der mittlerweile fast fünf Jahre in Berlin immer mal wieder begegnete. Besonders im ersten Jahr in Berlin wurde Aaron bewusst, wie stark die deutschen Wurzeln seiner Familien doch bis nach Australien reichten. »Mein Vater hatte Leberwurst im Kühlschrank oder Pumpernickel.«

»Ich habe meiner Großmutter viele Fragen gestellt.«

Aaron Lucas

Die Großeltern sprachen allerdings nur manchmal Deutsch, wenn sie nicht wollten, dass die Kinder etwas verstehen sollten. Erst als Aaron selbst die Sprache lernte und eines Tages seine Großmutter anrief, redete sie Deutsch mit ihm. »Ich verstand plötzlich, was sie sagte, und vorher war mir nicht bewusst, dass sie es überhaupt kann. Das war schon surreal.«

grossmutter Dass Aarons Großmutter ein positiver Mensch ist, das hat der Filmemacher auch in seiner Doku festgehalten. »Oma gab mir den Hinweis: ›Donʼt get too stuck in the past.‹« »Ich habe ihr viele Fragen gestellt, habe lange Telefonate mit ihr gehabt.« Was hätte Frank, der vor ein paar Jahren gestorben ist, dazu gesagt, was dazu und dazu? Auch, als es um die Annahme der Staatsbürgerschaft ging. Hätte ihm das wohl gefallen? Aber seine optimistische Oma wiegelte ab: »Ach, das hätte ihm sicherlich gefallen, und er hätte dich unterstützt.«

Aaron hatte allerdings auch Gespräche mit anderen Menschen, die seinen Großvater gekannt haben und meinten: »Na ja, vielleicht hätte er es auch nicht allzu gut gefunden.« Egal wie: Mittlerweile haben Aaron und seine Geschwister einen deutschen Pass. »Ich fühle mich wie eine Fusion aus beidem, aus Australien und aus Deutschland«, sagt der Regisseur, der seinen Platz in Berlin schon seit vielen Jahren gefunden hat: in Neukölln. »Als ich in Berlin ankam, suchte ich nach einer Wohnung. Und Neukölln war der erste Ort: Ich kam im Juli an, es war Sommer, es war einfach schön.«

Es gebe viele Australier dort und, betont Aaron, »sehr gute Flat Whites – Neukölln fühlt sich richtig an«. Ob es seinem Großvater Frank dort auch gefallen hätte? »Ich kann mir Frank nicht in Neukölln vorstellen, dort, wo ich lebe. Er liebte Kunst und Theater«, sagt Aaron, »das habe ich von ihm irgendwie mitbekommen. Die Schaubühne, wo ich oft bin, das wäre bestimmt etwas für Frank gewesen – für beide Großeltern.« Auch an diesem Tag wird Aaron noch an die Schaubühne gehen.

JUDENTUM Einen Punkt gibt es noch, der ihm immer klarer wird: »Ich verstehe, warum es für meinen Vater wichtig war, das Judentum in der Familie zu leben.« Es sei vielleicht sogar eine Art »erneuerter Wunsch«, es auch in sein Leben zu integrieren. »Ab und zu laden wir Freundinnen und Freunde zum Essen an Feiertagen ein, sagen vielleicht ein paar Gebete.« Frank, sagt Aaron, schreibe am Ende des Buches, das Judentum am Leben zu halten, sei ein »Akt des Widerstandes zu dem, was die Nazis erreichen wollten«.

Dem hat Aaron, da ist er ganz offen, da ist er ganz Frank, nichts hinzuzufügen.

Aaron Lucas: »Iʼll be Frank«. Sprecher: John Gaden, Berlin 2022
www.aaronlucasfilm.com

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