Berlin

Schlussakkord

Leidenschaftlicher Musiker, Pädagoge und Anekdotenerzähler: Boris Rosenthal Foto: Rolf Walter

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Boris Rosenthal unterrichtete 30 Jahre Musik am Jüdischen Gymnasium – nun verabschiedet er sich in den Ruhestand

von Christine Schmitt  12.12.2022 09:13 Uhr

Ist ein Leben ohne Schule möglich? Boris Rosenthal hofft es. Nach 30 Jahren Lehrtätigkeit am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn wird er ab Januar nicht mehr in dem Musikraum am Flügel sitzen, um den Schülern Harmonien und Dissonanzen beizubringen.

»Es war eine schwierige Entscheidung für mich, aber ich bin nun glücklich, sie getroffen zu haben«, sagt der 65-Jährige. 13 andere Musiklehrer, sieben Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins und vier Schulleiter hat er erlebt. Es sei eine schöne Zeit für ihn gewesen, und er habe gemerkt, was er geschafft hat. Beispielsweise, dass er Schüler für Musik begeistern konnte. Pro Jahrgang werde im Durchschnitt ein Schüler Profi.

alltag Sein Alltag ist getaktet: Nach den Stunden in der Schule probt und spielt er, dann löst er seine Krawatte und tauscht seinen Anzug gegen Sportkleidung oder gegen eine Motorradkombi ein. Außer, wenn er abends auf der Bühne steht. Boris Rosenthals Begeisterung für Musik ist ansteckend, er ist immer elegant gekleidet, und er kann mit seiner tiefen Stimme auch stundenlang Vorträge und Anekdoten erzählen, die immer spannend sind. Was natürlich an seiner verschmitzten Art und seiner Schlagfertigkeit liegt.

Dass er Musiker werden würde, stand für ihn als Kind bereits fest, als er in Lemberg aufwuchs.

Dass er Musiker werden würde, stand für ihn als Kind bereits fest, als er in Lemberg aufwuchs. Sein Vater war Berufsoffizier, seine Mutter Ärztin. Beide waren musikalisch und hatten unterschiedliche Vorstellungen, welches Instrument Boris lernen sollte. Sein Vater kaufte ihm ein Akkordeon, seine Mutter beharrte aufs Klavier. »Mein Vater versuchte es mir schmackhaft zu machen, dass es schön sei, im Wald für die Soldaten Akkordeon zu spielen.«

So übte er ein Jahr das eine Instrument, im nächsten das andere. Das Akkordeon war allerdings so groß, dass er nicht darüber schauen konnte, und der Auftritt im Wald erschien auch nicht besonders attraktiv. »Ich habe es gehasst.« Doch dann hatte seine Mutter andere Pläne für ihn: Er sollte Arzt werden. »Da legte ich mein Veto ein und sagte ihr, dass, wenn ich ein schlechter Chirurg werden würde, der Patient sterben könnte. Würde ich aber in der Musik etwas falsch machen, passiere nichts.« Das war überzeugend genug. Das Klavier stand in der eineinhalb Zimmer kleinen Wohnung, in der sie zu viert lebten.

rebell »Ich war ein Rebell und Rocker und brauchte dringend eine Gitarre.« Die gab es damals in der Ukraine nicht. Also beschloss er, das ukrainische Instrument Domra zu einer Gitarre umzubauen. Die Rockmusik war auch in Lemberg auf dem Vormarsch. Westliche Musik zu hören, war damals zwar verboten, doch da immer mehr ausländische Studenten ins Land kamen und ihre Musik mitbrachten, wurde es für Boris leichter, an sie heranzukommen. Er nahm sie mit einem Kassettenrekorder auf und hörte sie so lange ab, bis er alle Melodien und Harmonien aufgeschrieben hatte.

Leider habe er kein absolutes Gehör, »nur« ein sehr gutes, bedauert er. In seinem Kopf hat er unzählige Songs und Werke abgespeichert. Einmal eine Melodie konzentriert gehört, kann er sie jederzeit abrufen. Er mag es, Arrangements zu schreiben – und das half ihm auch am Jüdischen Gymnasium. »Da habe ich auch immer Schüler mit unterschiedlichen Instrumenten, also arrangierte ich immer für die Stimmen, die da waren.« Und so traten die Schul-Ensembles beispielsweise bei Gedenkveranstaltungen im Berliner Abgeordnetenhaus auf.

Er selbst besuchte in seiner Jugend das Konservatorium für Hochbegabte. »Aber ich habe oft die Schule gewechselt.« Bei dem ersten wurde er für die Akkordeon- und Chorklasse angenommen, doch da hatte er keine Lust, im Chor zu singen. Er bewarb sich heimlich bei einer anderen – mit Klavier. Als er eines Tages nach Hause kam, erwartete ihn schon seine Mutter, die von der Schule angerufen worden war, dass ihr Sohn dort nun weiterlernen könne, erzählt Boris verschmitzt. Er wusste genau, was er wollte, was seine Mutter auch einsah.

Zehn Stunden üben und proben war durchaus normal für ihn.

Doch dann erreichte die Gitarre auch offiziell das Land, und er konnte sein Spiel auf ihr vertiefen. »Rock, Pop war unerwünscht, wenn schon, dann klassische Werke.« Aber Rebellen lassen sich nichts sagen und hatten auch in der Sowjetunion schon von Deep Purple und Uriah Heep gehört. Mit Freunden baute Rosenthal einen riesigen Verstärker, den sie zu den Proben mitschleppten. Angekommen im Probenraum, kam es oft vor, dass es keinen Strom gab.

proben Zehn Stunden üben und proben war durchaus normal für ihn. Obwohl er vor seinem Studium mit Bands im Land unterwegs gewesen war, zig Melodien und Rhythmen im Kopf gespeichert hatte und seine Finger flink über die Saiten und Tasten kamen, musste er noch ein Musikstudium absolvieren. Dazu zählte auch eine Ausbildung im Dirigat und in der Chorleitung und auch in Pädagogik, was schließlich ein Glück war. Ob als Gitarrenlehrer oder Musiklehrer – er machte alles zusätzlich zu seinen Auftritten.

Ende der 80er-Jahre wurde sein Sohn als Sänger entdeckt, und Boris fing an, jüdische Musik zu spielen. Es war die Zeit der Perestroika, und an der Synagogenruine sollte traditionelle Lieder für die amerikanischen Gäste erklingen. »Doch ich kannte gar keine, woher denn?« Das jüdische Leben fand offiziell ja nicht statt. Er ließ sich überreden, zu Chanukka ein Konzert zu geben – vorher hatte er noch sämtliche Kassetten abgehört und transkribiert, die er finden konnte. »Jeder Jude hatte welche versteckt.«

Neben seinem Musikleben hatte er damals und heute noch ein Familienleben. »Ich bin früh ausgezogen, um mit meiner Frau zusammenzuziehen«, sagt er. 45 Jahre sind sie bereits durch Höhen und Tiefen gegangen, erzählt er bewegt. 1990 verließen sie ihre Zweizimmerwohnung mit Warmwasser und einem Telefon fürs ganze Haus, um nach Deutschland zu reisen. Ihr Sohn hatte als Sänger einen Auftritt in Berlin, sie begleiteten ihn – und blieben.

sozialhilfe In der ersten Zeit erhielten sie Sozialhilfe. »Ich dachte, wir wären nun reich, denn das Geld, was wir bekommen haben, war umgerechnet das Gehalt eines Arztes von fünf Jahren in der Ukraine. Ich fühlte mich als Millionär.« Die drei gingen in ein Kaufhaus. »Dort verstand ich, dass wir doch keine Millionäre sind.« Sie kauften sich zwei Bananen, eine für ihren Sohn, die andere teilten sie sich.

Die Gitarren hatte er unter ihrem Wert in der Ukraine verkauft, nur eine Bandura nahm er mit, weil ihm jemand gesagt hatte, dass er sie in Deutschland gut verkaufen könnte. »Ich besitze sie immer noch, keiner interessiert sich für dieses Instrument, und ich kann es noch nicht einmal spielen.«

Seine Frau, sein Sohn und er besuchten Deutschkurse. Untergebracht waren sie im Flüchtlingslager Tempelhof, nahe einer Brauerei. »Weil ich monatelang diesen Brauereigeruch in der Nase hatte, konnte ich lange Zeit kein Bier trinken.« Das hat sich mittlerweile aber geändert. Er bemühte sich um Jobs, denn Sozialhilfe annehmen zu müssen, lehnte er ab. Dennoch war er so arm, dass er sich damals noch nicht einmal einen Döner leisten konnte, wenn er abends nach einem Fußmarsch – denn auch Fahrscheine kosten Geld – in die Flüchtlingsunterkunft kam und hungrig einschlief.

reggae-band Schließlich konnte er eine Gitarre für 30 D-Mark kaufen und bewarb sich bei einer Reggae-Band – eine Musik, die er nicht kannte. »Ich habe mein ganzes Leben nur Reggae gespielt«, versicherte er den Band-Mitgliedern. So allmählich ging es wieder musikalisch aufwärts. Und auch der damalige Schulleiter des Jüdischen Gymnasiums entdeckte ihn. Die Zeugnisse hatte Boris aus Lemberg mitgebracht, und er bekam eine Sondergenehmigung vom Berliner Senat, nur ein Fach unterrichten zu müssen. Eigentlich sind zwei Voraussetzung.

Nach drei Jahren Leben in Berlin kam seine erste Stunde am Jüdischen Gymnasium. »Es war schwierig. Ich habe die Schüler nicht verstanden und sie mich nicht.« Doch er war vorbereitet und hatte für die erste Stunde eine CD mitgebracht, auf der der Dirigent Leonard Bernstein Musik erklärt. Wenig später gab es eine Fortbildung für Computer, und er sollte den Text – Fachdeutsch – vorlesen. »Nach drei bis vier Sätzen war ich durchgeschwitzt, denn ich hatte nichts verstanden.« Aber er wollte seine Schwäche nicht zeigen.

Sechs Gitarren besitzt er heute und träumt von einer Gibson.

Den Lehrplan für Musik kennt er natürlich auswendig. »Es ist hier viel freier und einfacher als in der Ukraine.« Von der Flüchtlingsunterkunft zog die Familie erst nach Kreuzberg, dann an die Kaiser-Friedrich-Straße, schließlich Steglitz und jetzt in den Grunewald. »Ganz schöner Aufstieg, nicht wahr?«, sagt er lachend. Das Wichtigste für ihn: Er kann ungestört Tag und Nacht Musik machen. Sechs Gitarren besitzt er heute. »Was ich jeden Tag bereue, ist, dass ich damals bei unserer Emigration meine Gibson für ein paar Rubel verkauft habe.« Heute sind sie selten und sehr teuer, »ich brauche sie nicht, aber ich möchte sie«.

Stars Das christliche neue Jahr wird er noch wie immer beginnen – mit einem Konzert in der Philharmonie. Klezmer, Klassik, Rock oder Pop oder auch Reggae – er beherrscht alle Musikgenres. Danach möchte er »nichts machen«. Doch prompt fällt ihm ein, wie sein Schreibtisch aussieht, voll mit Papieren, die in Ordner abgeheftet werden müssen.

In seinem Arbeitszimmer hängen Fotos von ihm und Prominenten, fast alle Bundespräsidenten, Berliner Bürgermeister und Stars. Er erinnert sich gerne an diese Momente. Und Sport möchte er weiter treiben. Ansonsten: »Keine Ahnung, was im nächsten Jahr passiert.« Auf der Bühne wird er weiter stehen, aber beim Kulturprogramm des Zentralrats wollte er Platz für jüngere Musiker machen. Er hat in fast allen der über 100 jüdischen Gemeinden konzertiert.

Ein Leben ohne Schule ist eventuell möglich, aber ein Leben ohne Musik – niemals. Auch für die vielen Fans von Boris Rosenthal nicht, die ihn weiter hören und erleben wollen.

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