Frankfurt/Main

»Renaissance des Vorurteils«

Fast hätte Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, absagen müssen, denn der EU-Türkei-Sondergipfel in Brüssel war kurzfristig für den gleichen Tag anberaumt worden. Aber es sei ihm besonders wichtig, sogar eine außergewöhnliche Ehre, der Einladung Folge zu leisten, sagt er am Sonntag auf der Ratsversammlung im Festsaal des Ignatz-Bubis-Gemeindezentrums in Frankfurt am Main.

Und so kann Zentralratspräsident Josef Schuster zu Beginn der Tagung des obersten Entscheidungsgremiums des Zentralrats der Juden den Ehrengast begrüßen. Schuster nennt dabei auch gleich die Themen, die die Versammlung besonders interessierten: Wie soll eine europäische Lösung für die Aufnahme von Flüchtlingen aus arabischen Ländern aussehen? Darüber hinaus würde man gerne die Meinung des SPD-Politikers zur Kennzeichnung von Produkten aus sogenannten israelischen Siedlungen kennenlernen.

Schulz beantwortet die Fragen, macht aber erst einmal seine Position zu den derzeitigen Herausforderungen Europas klar, indem er betont, dass diese nur gemeinsam bewältigt werden könnten. Europa als reichster Kontinent der Welt müsse in der Lage sein, den Flüchtlingszustrom zu bewältigen. Voraussetzung sei aber die Solidarität der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die sogar ein Akt pragmatischer Vernunft sei. »Sie können ein globales Problem nicht mit dem Rückzug in den Schrebergarten nationaler Lösungen bewältigen.«

Integration In Bezug auf die Integration der Flüchtlinge sagt Schulz, dass diejenigen, die nach Deutschland kämen, sich an die Rahmenbedingungen offenen Zusammenlebens halten müssten. Jeder sollte zur Begrüßung die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes in der jeweiligen Sprache erhalten, schlug er vor. Wer sich an die Regeln halte, solle auch seinen Platz in der Gesellschaft finden. »Das heißt im Umkehrschluss: Wer sich nicht an diese Regeln halten will, kann auch keinen Platz für sich beanspruchen«, macht Martin Schulz deutlich. Jeder müsse lernen, dass in einer offenen, toleranten Gesellschaft die Freiheit des Einzelnen dort ende, wo sie die Freiheit der anderen einschränke.

Antisemitismus, Hass oder Intoleranz hätten in Deutschland und Europa keinen Platz, betont der SPD-Politiker. Schulz spricht von einer Besorgnis erregenden Situation, in der Ultranationalisten in verschiedenen europäischen Ländern die größten Wahlgewinner seien. Dabei sei die Rhetorik der Leute, die die Europäische Union abwählen wollten, die gleiche wie diejenige derer, die Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit propagierten. Schulz sagt, die Idee der transnationalen Demokratie sei das Rezept gewesen, die destruktiven Kräfte, die diesen Kontinent und dessen Völker im vergangenen Jahrhundert ins Unglück trieben, zu verbannen. Nun sei eine Renaissance der Kräfte zu erleben, von denen man geglaubt habe, sie seien verbannt. »Und wir erleben eine Renaissance des Vorurteils.«

Insofern sei der Kampf für ein integriertes Europa auch ein »Kampf gegen das Gift des Antisemitismus«, für die Gleichberechtigung aller in einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft. Er versichert, dass der Schutz jüdischen Lebens in diesem Land und die Garantie einer sicheren und friedlichen Existenz Israels die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland sei und bleibe. Dies solle auch Existenzgrund für die Europäische Union sein.

Schlagzeilen Im Anschluss bezieht sich Schulz direkt auf eine Aussage des Zentralratspräsidenten, die in der vergangenen Woche Schlagzeilen gemacht hatte. »Zentralrat fordert Obergrenze« war da zu lesen. Tatsächlich hatte Schuster in einem Gespräch mit der Zeitung »Die Welt« gesagt, dass man in der Flüchtlingsfrage über kurz oder lang nicht um Obergrenzen herumkommen werde. Zugleich hatte er geäußert, dass viele Flüchtlinge aus Kulturen kommen, in denen Hass auf Juden und Intoleranz ein fester Bestandteil sind.

Schulz bemerkt dazu, dass er die lebhafte Debatte verfolgt habe, sich aber nicht nur auf Schlagzeilen und Agenturmeldungen verlasse, sondern die Ursprungstexte lese. Dies könne er jedem empfehlen, denn dann relativiere sich die Aufregung in Sekundenschnelle. Er, so Schulz, habe Verständnis für diejenigen, die die Frage aufwerfen, ob es ein Risiko für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sei, wenn ein großer Teil von Menschen, die einwandern, aus Kulturen kommen, in denen es latenten oder offenen Antisemitismus und eine öffentlich propagierte Feindschaft gegen Israel gibt. Diese Frage zu stellen, sei berechtigt. Doch die Frage in ein Vorurteil gegenüber Immigranten zu wenden, sei intellektuell unredlich.

Was die Kennzeichnung israelischer Produkte aus dem Westjordanland und vom Golan angehe, habe er sich schon viele Jahre vor der Entscheidung dagegen ausgesprochen. Dies sei unsinnige Scheinpolitik, die keine Probleme löse. Vielmehr verursache sie neue, weil auch Palästinenser bei der Herstellung dieser Produkte in Lohn und Brot stünden, diese Maßnahme also überhaupt nicht für die Verbesserung der Lebenssituation der Palästinenser sorge, ganz im Gegenteil. »Es gab dafür eine Mehrheit, der gehöre ich nicht an«, so Schulz.

Bekenntnis Zentralratspräsident Josef Schuster dankt Schulz für sein klares Bekenntnis zum Schutz jüdischen Lebens in Europa und für sein deutliches Nein zu jeder Form von Antisemitismus. »Wir hoffen zudem, dass die EU auch in der Flüchtlingskrise zu einer Einigung findet und sich auf eine angemessene Verteilung der Menschen verständigt.«

Die Delegierten spenden freundlichen Applaus. Dann macht sich der EU-Parlamentspräsident auf in Richtung Brüssel zum Sondergipfel, bei dem die 28 Staats- und Regierungschefs Lösungen der Flüchtlingskrise diskutieren und einen Aktionsplan gegen einen unkontrollierten Zustrom mit der Türkei verabschieden.

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