Lesen

»Perspektiven sichtbar machen«

Herausgeberin Laura Cazés Foto: Robert Poticha

Lesen

»Perspektiven sichtbar machen«

Laura Cazés über den Sammelband »Sicher sind wir nicht geblieben«, Jüdischsein und Humor trotz Schmerz

von Joshua Schultheis  16.09.2022 10:01 Uhr

Frau Cazés, im Sammelband »Sicher sind wir nicht geblieben«, dessen Herausgeberin Sie sind, haben zwölf Jüdinnen und Juden verschiedener Generationen und mit ganz unterschiedlichen Hintergründen Texte geschrieben. Was verbindet die Autoren miteinander?
Sie alle haben eine bestimmte Perspektive auf jüdisches Leben in Deutschland. Die Positionen, die sie aus dieser Perspektive heraus entwickelt haben, sind in Teilen sehr unterschiedlich und auch kontrovers. Trotzdem überschneiden sie sich an ganz vielen Stellen. Das war mir bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren wichtig. Der rote Faden des Buches sind die Fragen, die ich mir zum Jüdischsein in Deutschland stelle und die ich die Autoren gebeten habe zu beantworten.

Welche Fragen waren das?
Ein paar Beispiele: Was bedeutet Deutschland für dich? Warum lässt uns die Schoa nicht los? Was empfindest du als Ressource an deinem Jüdischsein? Was könnte die jüdische Community sein? Die ursprünglichen Fragen – und das habe ich mir auch so gewünscht – haben in den Antworten eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Die unterschiedlichen Texte sprechen aber zueinander, und das war mir am wichtigsten.

Ist das Buch der Versuch, die Vielfalt des Judentums in Deutschland abzubilden?
Nein, das halte ich für gar nicht möglich. Jüdisches Leben ist fast schon so divers, wie es eben jüdische Menschen in diesem Land gibt. Der Sammelband hat den Anspruch, eine Bandbreite an Perspektiven sichtbar zu machen, und zwar zum einen solche, die bekannt sind und im öffentlichen Raum stattfinden, dann aber auch solche, die stillere Facetten des jüdischen Lebens abbilden. So beleuchtet beispielsweise der Text der Journalistin Erica Zingher »Geschenke kosten« das Thema der unsichtbaren Jüdinnen und Juden in Deutschland, diejenigen, die nicht medienaffin sind und denen niemand zuhört.

Sie schreiben in Ihrem einleitenden Essay, die Realität jüdischen Lebens in Deutschland wird kaum beachtet. Was ist es, was die Mehrheitsgesellschaft übersieht?
Es wird sich zum Beispiel kaum mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich jüdisches Leben nach 1945 von dem vor der Schoa unterscheidet. Dasselbe gilt für strukturelle Altersarmut sowie die Migrationsbiografien und die damit einhergehenden Brüche vieler Juden in Deutschland. Auch die Frage danach, wie die Schoa in die dritte Generation hineinwirkt, spielt kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung.

Sie sprechen von einem »immerwährenden Spagat«, den Juden hierzulande machen.
Diesen Spagat sichtbar zu machen, ist ein Anliegen des Buches. Im Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wurde immer wieder betont, wie schön es ist, dass jüdisches Leben hier wieder blüht. Das ist auch richtig. Zur Vollständigkeit des Bildes gehört aber auch die Verunsicherung, die Juden in diesem Land spüren.

Ihre Heimat ist Deutschland nicht, schreiben Sie. Wo ist Ihre Heimat dann?
Die Frage kann ich gar nicht richtig beantworten. Das Konzept »Heimat« ist mir einfach fremd. Aber auch das beantworten jüdische Menschen alle unterschiedlich.

Es geht in dem Buch viel um das Hadern mit Deutschland und damit, hier nicht so akzeptiert zu werden, wie man ist. Was ist die positive Vision jüdischen Lebens in diesem Land?
In den Texten steckt ein realistisches, vielleicht pessimistisches Moment, aber auch ein utopisches Element, ein Element der Hoffnung und der Selbstbestimmung. Die Texte zeigen auch, dass die Autoren nicht nur jüdisch, sondern dass sie ganz viel sind. Das macht die Stärke dieser Texte aus. Sie sind an manchen Stellen sehr vulnerabel, strahlen aber gleichzeitig auch eine unglaubliche Stärke aus. Sie sind nicht einfach eine finstere Prognose über die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, sondern sind von viel Leichtigkeit und Witz getragen. Auch bei Texten, die einen tiefen Schmerz beschreiben, muss man manchmal laut lachen. Und es gibt Texte, die sind mutig und kontrovers und artikulieren Positionen, denen ich persönlich gar nicht zustimmen würde. Mir war als Herausgeberin wichtig, diese Streitbarkeit als Teil jüdischen Denkens und jüdischen Seins sichtbar zu machen.

»Sicher sind wir nicht geblieben« ist im S. Fischer Verlag erschienen und versammelt Beiträge von Richard C. Schneider, Mirna Funk, Marina Chernivsky und anderen. Mit der Herausgeberin und ZWST-Mitarbeiterin Laura Cazés sprach Joshua Schultheis.

Ehrung

Göttinger Friedenspreis für Leon Weintraub und Schulnetzwerk

Zwei Auszeichnungen, ein Ziel: Der Göttinger Friedenspreis geht 2026 an Leon Weintraub und ein Schulprojekt. Beide setzen sich gegen Rassismus und für Verständigung ein

von Michael Althaus  13.11.2025

Israel

Voigt will den Jugendaustausch mit Israel stärken

Es gebe großes Interesse, junge Menschen zusammenzubringen und Freundschaften zu schließen, sagt der thüringische Regierungschef zum Abschluss einer Israel-Reise

von Willi Wild  13.11.2025

Karneval

»Ov krüzz oder quer«

Wie in der NRW-Landesvertretung in Berlin die närrische Jahreszeit eingeleitet wurde

von Sören Kittel  13.11.2025

Jüdische Kulturtage Berlin

Broadway am Prenzlauer Berg

Vom Eröffnungskonzert bis zum Dancefloor werden Besucherrekorde erwartet

von Helmut Kuhn  13.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025