Interview

»Neukölln ist mehr als nur die Sonnenallee«

Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) Foto: picture alliance/dpa

Herr Hikel, Neukölln machte in den vergangenen Tagen wieder durch antisemitische Proteste Schlagzeilen. Wie denken Sie als Bürgermeister dieses Bezirks über die vergangene Woche?
Es ist erschreckend, was in Nahost passiert. Insbesondere der brutale Terror der Hamas, der auch viele Menschen in Neukölln mitnimmt. Umso beschämender ist es, dass es hier Organisationen wie »Samidoun« gibt, die diesen Terror bewusst auf unseren Straßen durch das Verteilen von Süßigkeiten verherrlichen. Auch für andere Neuköllnerinnen und Neuköllner ist das beschämend. Denn Neukölln ist mehr als nur die Sonnenallee und mehr als die, die regelmäßig durch ihre anti-israelische Hetze auffallen.

Bundeskanzler Olaf Scholz will Samidoun jetzt verbieten lassen. Ist das Antisemitismusproblem in Ihrem Bezirk damit gelöst?
Natürlich nicht. Ein Verbot brauchen wir erst einmal nur, um deutlich zu machen, dass wir als Demokratie solche Vereine nicht dulden. Aber wir wissen sehr wohl, dass antisemitische Narrative seit Jahren stark in den Köpfen verankert sind. Dagegen eine vernünftige Demokratiearbeit zu leisten, ist eine stetige Aufgabe. Wir müssen uns immer wieder kritisch selbst befragen: Was machen wir richtig, und was machen wir falsch, wenn wir es offenbar nicht schaffen, die Elternhäuser und die Schülerinnen und Schüler so zu erreichen, dass ein Perspektivwechsel auf Jüdinnen und Juden, aber auch auf Israel möglich wird. Mich besorgt auch, das offenbar Worte wie »Du Jude« als Schimpfwörter auf Schulhöfen gelten – nicht nur in Neukölln.

Wie wollen Sie dem grassierenden Antisemitismus an Neuköllner Schulen begegnen?
Momentan ist es wichtig, dass die Senatsverwaltung die Lehrkräfte in dieser Konfliktsituation unterstützt – und das tut sie auch. Wenn es blinde Flecken zum Thema Nahost gibt, dann braucht es dazu Handreichung und Unterstützung. Wer Mathematik und Physik unterrichtet, der ist nicht unbedingt dazu ausgebildet, eine differenzierte Diskussion zum Thema zu führen. Aber natürlich muss auf die emotionale Situation der Schülerinnen und Schüler eingegangen werden. Und genau hierfür gibt es die bereits erwähnten Projekte zur Demokratiebildung. Sie müssen klarmachen: Wir haben das Privileg, Demokratie und Vielfalt leben zu können. Deshalb muss auch der Hass auf Israel scharf verurteilt werden. Ein Problem ist aber auch die Präsenz von Social Media, der schwer nachzukommen ist und die immer wieder neue Hetze an Schülerinnen und Schüler heranträgt.

Am Donnerstag vergangener Woche verurteilten arabische und muslimische Verbände den Hamas-Terror in einer von Ihnen initiierten Erklärung. Erfahren Sie im Kampf gegen Antisemitismus Unterstützung aus diesen Communitys?
Ich bin sehr froh darüber, dass die Erklärung von vielen arabischen Vereinen unterstützt wird. Sie wollen dem weit verbreiteten Bild der arabischen Demonstranten auf der Sonnenallee etwas entgegensetzen. Diese kritischen Stimmen müssen lauter und sichtbarer werden. Wir haben für die Erklärung bewusst alle Moscheevereine im Bezirk Neukölln angesprochen, um als Erst­unterzeichner aufgeführt zu werden. Nur zwei haben sich bisher zurückgemeldet – und abgesagt. Sie äußern sich verhalten und verweisen auf eine eigene Erklärung. Darüber hinaus haben viele Migranten-Selbstorganisationen mitunterzeichnet. Wir werden sicherlich im Nachgang darüber reden müssen, warum einzelne Moscheevereine unsere Erklärung nicht unterstützen können.

Bekommt der Bezirk Neukölln nun einen eigenen Antisemitismusbeauftragten, wie beispielsweise in Lichtenberg?
Im Wesentlichen haben wir in unserem Haushalt dafür Vorsorge getroffen, dass es jemanden gibt, der sich mit dem Thema Antisemitismus, aber auch Queerfeindlich­keit beschäftigt. Der Berliner Haushalt steht aber noch nicht fest. Daher wissen wir noch nicht, ob solch ein Beauftragter mit ausreichend Ressourcen ausgestattet wäre. Ein Büro und ein Computer sind ein guter Anfang, aber entscheidend sind finanzielle Mittel, um wirksam gegen Antisemitismus und Queerfeindlichkeit vorzugehen. Ich denke, ein Beauftragter wäre wichtig, denn wir sind Motor dieser Stadt. Wenn es hier nicht läuft – wie wir gerade sehen –, dann läuft diese Stadt nicht.

Mit dem Neuköllner Bezirksbürgermeister sprach Jonathan Guggenberger.

Porträt der Woche

Zwischen den Welten

Ruth Peiser aus Berlin war Goldschmiedin, arbeitete bei einer Airline und jobbt nun in einer Boutique

von Gerhard Haase-Hindenberg  15.06.2025

Berlin

»Drastisch und unverhältnismäßig«

Die Jüdische Gemeinde erhöht die Gebühren ab September deutlich. Betroffene Eltern wehren sich mit einer Petition

von Christine Schmitt  12.06.2025

Hamburg

Kafka trifft auf die Realität in Tel Aviv

Ob Krimi, Drama oder Doku – die fünften Jüdischen Filmtage beleuchten hochaktuelle Themen

von Helmut Kuhn  12.06.2025

Weimar

Yiddish Summer blickt auf 25 Jahre Kulturvermittlung zurück

Zwischen dem 12. Juli und 17. August biete die internationale Sommerschule für jiddische Musik, Sprache und Kultur in Weimar diesmal insgesamt über 100 Programmbausteine an

von Matthias Thüsing  11.06.2025

Sachsen

Verdienstorden für Leipziger Küf Kaufmann

Seit vielen Jahren setze er sich für den interreligiösen Dialog und den interkulturellen Austausch von Menschen unterschiedlicher Herkunft ein

 11.06.2025

Oldenburg

Brandanschlag auf Synagoge: Beschuldigter bittet um Entschuldigung

Am 5. April 2024 war ein Brandsatz gegen die massive Tür des jüdischen Gebetshauses in der Leo-Trepp-Straße geworfen worden

 11.06.2025

Erinnerung

731 Schulen erinnern an Anne Frank

Der Aktionstag findet seit 2017 jährlich am 12. Juni, dem Geburtstag des Holocaust-Opfers Anne Frank (1929-1945), statt

 11.06.2025

Grand Schabbaton

Eine 260-köpfige Familie

In Potsdam brachte der»Bund traditioneller Juden« mehrere Generationen zusammen

von Mascha Malburg  11.06.2025

Meinung

Jewrovision: einfach jung und jüdisch sein

Junge Jüdinnen und Juden sind alltäglich Anfeindungen ausgesetzt. Für sie ist die Jewrovision ein Safe Space

von Katrin Richter  11.06.2025