Berlin

Neue Töne, neues Leben

Julie Sassoon ist vor einem Jahr nach Berlin gezogen: »Das war ein großer Schritt für mich.« Foto: Stephan Pramme

Berlin

Neue Töne, neues Leben

Julie Sassoon: Die britisch-jüdische Pianistin kam von der Klassik zum Jazz – und von Manchester nach Berlin

von Alice Lanzke  20.04.2010 12:01 Uhr

Zusammengesunken sitzt die Pianistin an dem schwarz-glänzenden Steinway-Flügel, das Gesicht hinter den blonden Locken verborgen. Nur kurz wird es sichtbar, wenn sie im Takt des schnellen Anschlags den Kopf von einer Seite auf die andere fallen lässt. Fast wirkt es, als ob Julie Sassoon sich hinter dem Klavier und ihrer Musik verstecken will. So hat es beinahe etwas Intimes, wenn man ihr wie bei diesem Konzert in der Jazzwerkstatt beim Spielen zusieht.

Dieser Eindruck verstärkt sich noch, als sie vor ihrem Stück New Life ein paar Worte an das Publikum richtet. »Meine jüdische Familie floh 1938 aus Deutschland, und vor einem Jahr bin ich nach Berlin gezogen«, erzählt die gebürtige Britin. »Das war ein großer Schritt für mich.« New Life habe sie zwar geschrieben, als sie mit ihrer Tochter schwanger war, doch der Song verändere seine Bedeutung nun ständig – und stehe jetzt auch für ihren Umzug nach Deutschland.

»Das war das erste Konzert, bei dem ich erzählt habe, dass ich aus einer jüdischen Familie komme«, sagt Sassoon hinterher. Sie habe diese Ansage nicht geplant, sondern es »einfach rauslassen« wollen. Wie schon hinter dem Flügel wirkt sie auch im Gespräch, als wolle sie sich klein machen, lässt die Haare ins Gesicht fallen und schlingt die Arme um die Knie. Immer wieder beginnt sie Sätze neu, ringt mit den Worten – bemüht, den richtigen Ausdruck zu finden.

Kunst Auch für ihre Kreativität dauerte es eine Weile, bis sie den passenden Ausdruck fand. So kommt sie zwar aus einer musikalischen Familie, in der sowohl ihre Eltern als auch ihre vier Geschwister ein Instrument spielen, wandte sich aber dennoch zunächst der Malerei zu. Noch heute zeugen bunte, abstrakte Aquarelle in ihrer Wohnung von diesem Talent. Mit der Zeit wurde aber die Musik immer wichtiger, neben der Kunst studierte sie klassische Musik. Wirklich glücklich machte sie diese Wahl aber anfangs auch nicht. »Ich fand es sehr frustrierend, weil ich die Klassik einfach nicht genug liebte«, erinnert sie sich. Also wechselte Sassoon an die Volkshochschule von Manchester, um mit Jazz anzu-fangen. Gleichzeitig komponierte sie verstärkt eigene Stücke. »Damals war ich allerdings noch sehr schüchtern damit, eine Freundin musste mich erst ermutigen«, so Sassoon. Der Wechsel von der klassischen Konzertpianistin zu eigenen Kompositionen und zeitgenössischer Musik war ein Wagnis, auch wenn sie selbst es nicht so empfand: »Ich nehme nie die sichere Straße«, sagt Sassoon.

Familie Ihre Werke waren dabei immer Ausdruck dessen, was sie fühlte – auch und gerade in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die Sassoon als sehr dominant beschreibt. So sei sie orthodox erzogen worden, vor allem in der Familie der Mutter habe die Religion eine starke Rolle gespielt. Ebenso die Schoa: Die Eltern ihrer Großmutter wurden in Auschwitz ermordet, ihre Oma konnte zeit ihres Lebens nicht darüber sprechen, ohne zu weinen. »Generell war das Thema bei uns immer präsent, aber ich kannte die Details nicht.« 1938 war die Familie aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald nach Manchester geflohen, nach der Flucht wollte sie nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Dennoch reiste Julie Sassoon 1991 nach Berlin, um diese Seite ihrer Herkunft bewusst wahrzunehmen. »Ich lernte Deutsche in meinem Alter kennen, verliebte mich in einen Deutschen und wusste nach zwei Wochen, dass ich hier leben will.« Die »Entdeckung ihrer deutschen Seite« nennt sie diese Zeit.

Umzug Ihr Interesse für Deutschland war nicht der einzige Konflikt, den sie vor allem mit ihrer Mutter austragen musste. »Es wurde von uns erwartet, jüdisch zu heiraten, uns an die Gebote zu halten – alles Regeln, die ich gebrochen habe«, fasst sie zusammen. Sie lebe das Judentum heute eher als Kultur. Dennoch habe es seit ihrem Umzug nach Berlin an Bedeutung gewonnen. »Vorher lebte ich mit meinem Mann zehn Jahre in London, wo wir so viele jüdische Freunde hatten – da war ich einfach jüdisch, ohne darüber nachzudenken.« Nun in Berlin sei sie jedes Mal fasziniert, wenn sie einen Juden treffe. Außerdem sei ihr wichtig, ihrer fünfjährigen Tochter eine jüdische Identität zu vermitteln. »Um diese Frage mache ich mir in Berlin viele Gedanken, das wäre in London einfacher gewesen«, erklärt Sassoon.

Dazu kommt, dass ihr deutscher Mann, ebenfalls Musiker, Katholik ist. »Nicht die einfachste Kombination«, lacht sie. Bei der Erinnerung an die erste Zeit der Beziehung wird sie wieder ernst: Sie habe sich mit vielen Dingen konfrontieren müssen, vor allem die Mutter konnte ihre Wahl am Anfang nicht akzeptieren. Mit den Jahren sei es allerdings leichter geworden. »Ich finde es sehr schön, dass wir mit diesen unterschiedlichen Hintergründen eine gemeinsame Tochter haben können«, lächelt sie. Mittlerweile besuche sie die Mutter regelmäßig in Berlin, im vergangenen September habe es ein großes Familientreffen in der Stadt gegeben.

Gefühle Musik und Leben sind bei Sassoon untrennbar verbunden: Ihre Art zu spielen, reflektiert, was sie gerade fühlt. Anders könne sie nicht sein, sagt sie. »Ich denke nicht darüber nach, wie ich mich bei einem Auftritt entblöße«, sagt sie. Die Nervosität vor einem Konzert verschwinde in dem Augenblick, in dem sie sich an den Flügel setze. »Dann bin ich in der Musik«, beschreibt sie den Moment. Dies drückt sich auch in ihrer expressiven Spielweise aus: Mal schlägt sie die Tasten mit der Handkante an, dann nur mit einem durchgestreckten Zeigefinger. Zwischendurch singt sie mit klarer Stimme – keine Worte, nur Töne, die ihr Spiel untermalen. Bei alldem wirkt Julie Sassoon nie gekünstelt. Sie sei einfach sie selbst, meint sie schlicht und schlingt die Arme noch fester um die Knie: »Ich bin nicht sehr poliert.«

Hamburg

»An einem Ort getrennt vereint«

In der Hansestadt soll die Bornplatzsynagoge, die in der Pogromnacht von den Nazis verwüstet wurde, wiederaufgebaut werden. Ein Gespräch mit dem Stiftungsvorsitzenden Daniel Sheffer über Architektur, Bürokratie und Räume für traditionelles und liberales Judentum

von Edgar S. Hasse  13.09.2025

Meinung

»Als Jude bin ich lieber im Krieg in der Ukraine als im Frieden in Berlin«

Andreas Tölke verbringt viel Zeit in Kyjiw und Odessa – wo man den Davidstern offen tragen kann und jüdisches Leben zum Alltag gehört. Hier schreibt er, warum Deutschland ihm fremd geworden ist

von Andreas Tölke  13.09.2025

Porträt der Woche

Das Geheimnis

Susanne Hanshold war Werbetexterin, Flugbegleiterin und denkt über Alija nach

von Gerhard Haase-Hindenberg  13.09.2025

Jahrestag

»So betäubend wie damals«

Am Mahnmal in Fürstenfeldbruck wurde an die Opfer des Olympia-Attentats von 1972 erinnert

von Luis Gruhler  13.09.2025

Feiertage

Tradition im Paket

Das Familienreferat des Zentralrats der Juden verschickt die neuen Mischpacha-Boxen mit allerhand Wissenswertem rund um Rosch Haschana und Sukkot

von Helmut Kuhn  12.09.2025

Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Die Filmemacherin Shoshana Simons über ihre Arbeit, das Schtetl und die Jüdische Kunstschule

von Pascal Beck  11.09.2025

München

Ein Fundament der Gemeinde

Die Restaurierung der Synagoge an der Reichenbachstraße ist abgeschlossen. In den Erinnerungen der Mitglieder hat das Haus einen besonderen Platz

von Luis Gruhler  11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigte sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Dialog

Brücken statt Brüche

Eine neue große Tagung der Denkfabrik Schalom Aleikum widmet sich der digitalen Kommunikation in Krisenzeiten

 11.09.2025