Porträt der Woche

»Mitgefühl kann man üben«

»Mit Kunst ist es ähnlich wie mit Religion – sie gibt etwas eine Form, von dem man nur eine Ahnung hat«: Anna Schapiro (31) lebt in Berlin. Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

»Mitgefühl kann man üben«

Anna Schapiro ist Künstlerin und thematisiert in ihren Bildern Migrationserfahrungen

von Eugen El  01.12.2019 07:27 Uhr

Ich wurde im März 1988 in Moskau geboren. Dort verbrachte ich die ersten Jahre meiner Kindheit. Im Dezember 1992 emigrierte meine Familie nach Deutschland. Wir wurden nach Dillenburg in Hessen eingeteilt. Meine Eltern waren damals Anfang 30 und ich viereinhalb Jahre alt. Später fragte ich sie, wieso ausgerechnet Dillenburg. Dazu erzählten sie meist Anekdoten: Es hieß, meine Mutter habe geschaut, was am weitesten westlich liege. Und dann seien wir dorthin gegangen.

Als Studentin habe ich im Rahmen meiner Förderung durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) eine Seminarreihe zu Judentum und Migration mitorganisiert. In diesem Zusammenhang besuchten wir in Nürnberg das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, genauer gesagt, die jüdische Abteilung des BAMF. Es gab ein Treffen der Abteilungsleiter und der Seminarteilnehmer, auf deren Biografien sich die Entscheidungen, die an den BAMF-Schreibtischen getroffen wurden, direkt auswirkten.

zusammentreffen Dieses Zusammentreffen war sehr bewegend für beide Seiten. Wir sprachen über den sogenannten Königsteiner Schlüssel, der uns nach Dillenburg gebracht hatte und nach dem Flüchtlinge bis heute auf Kommunen verteilt werden. Wir diskutierten über die unterschiedlichen Rechte, die jüdischen Migranten und Russlanddeutschen zustehen, sowie über die Absurdität des Begriffs »Kontingentflüchtlinge«. Er wurde von den vietnamesischen »Boat People« übernommen.

Mit meinem Judentum gehe ich sehr selbstbewusst um.

Dass wir jüdisch sind, war die ganze Zeit klar. Wenn ich von »wir« spreche, meine ich meine Eltern und meine Geschwister. Ich habe eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder, der in Deutschland geboren wurde. In der Schule haben wir nicht am Religionsunterricht teilgenommen. Wir gingen damit sehr selbstbewusst um.

Ich erinnere mich, wie ich auf dem Schulflur saß, während meine Klassenkameraden Religionsunterricht hatten. Wenn Lehrer vorbeikamen, die dachten, ich hätte etwas Freches gemacht, verkündete ich immer voller Stolz: »Ich bin Jüdin, ich gehe nicht zum Religionsunterricht.«

FILTER Die jüdische Gemeinschaft war in Dillenburg nicht so groß. Es gab weder eine jüdische Schule noch einen jüdischen Kindergarten. Mein jüdischer Kosmos waren meine Eltern, Großeltern und das, was sie uns die ganze Zeit erzählten. Es war ein Judentum mit sowjetischem Filter und einer speziellen Moskauer Intelligenzija-Note. Bei Spaziergängen kommentierte meine Oma, woran man merke, dass Dillenburg kulturlos sei: daran, dass es dort kein Theater und kein Programmkino gebe, dass die Leute Zigaretten und Kaugummis auf den Boden werfen.

Eigentlich habe ich schöne Erinnerungen an diese erste Zeit in Deutschland. Als Kinder genossen wir neue Freiheiten und hatten viele Spielkameraden. Die Erwachsenen waren mit Ankommen beschäftigt, während wir Kinder die Kleinstadt eroberten, indem wir »Apfel oder Streich« spielten oder unterwegs waren.

Ich besuchte die Waldorfschule und hatte dort viele künstlerische Fächer. So entstand auch der Wunsch, Bildende Kunst zu studieren. Ich hatte viele Lehrer und ein Umfeld, das mich darin bestärkte. In meiner Familie hingegen gab es vor mir keine anderen Künstler. Bei uns sind alle Ärzte, Juristen oder Lehrer. Das führte zu manchem Konflikt, in dem ich meinen Entschluss, Kunst zu studieren, durchsetzen musste.

Viel Unterstützung habe ich immer wieder von meinen Freunden bekommen, von denen viele auch künstlerisch arbeiten. In den künstlerischen Fächern hatte ich den Eindruck, dass dort Dinge passieren, die ich vorher nicht ahnen konnte. Das interessierte mich. Anders als im Matheunterricht, in dem alle auf dasselbe Ergebnis kommen sollten, gab es hier andere Freiheiten und eine andere Unbekannte. Ich erfuhr dann, dass man Kunst auch mit einer Sonderbegabtenprüfung studieren kann.

Mit 18 Jahren brach ich die Schule ab. Ich baute auf die Begabtenprüfung – mit einer Naivität und einem Vertrauen, die man wohl in diesem Alter hat.

Mit 18 Jahren brach ich die Schule ab. Ich war entschlossen, dass es mit der Sonderbegabtenprüfung klappen würde – mit einer Naivität und einem Vertrauen, die man mit 18 hat. Es hat dann auch geklappt. An der Hochschule für Bildende Künste Dresden studierte ich in der Fachklasse von Ulrike Grossarth.

Diese Zeit war sehr wichtig für mich. In der Fachklasse entwickelte jeder von uns seine eigene künstlerische Arbeit. Zudem übten wir ein weites Verständnis von künstlerischem Arbeiten und der gesellschaftlichen Verantwortung, die damit einhergeht. Diese Haltung prägt meine Arbeiten und mein Denken.

Grossarth beschäftigt sich sehr viel mit dem Judentum. Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass ich selbst gern noch mehr darüber erfahren möchte. Deshalb studierte ich 2017 ein Jahr lang bei Paideia in Stockholm. Dieses Jahr war ein Akt der Selbstermächtigung.

ZEITSCHRIFT Für mein Meisterschülerstudium in Dresden erhielt ich ein ELES-Stipendium. Das veränderte vieles, auch bezüglich meines Judentums. Davor kannte ich nur wenige Leute in meinem Alter mit ähnlichen Interessen, die auch jüdisch sind. Wir haben eine Auslandsakademie in New York gemacht. Kurz danach gründete ich zusammen mit Hannah Peaceman, Lea Wohl von Haselberg, Marina Chernivsky, Micha Brumlik und Max Czollek das Magazin »Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart«.

Die Zeitschrift erscheint zweimal im Jahr. Als ein linkes jüdisches Medium war es uns wichtig, dass sich nicht nur jüdische Personen äußern, sondern auch nichtjüdische Autoren. Die Haltung ist das Wichtigste: Unsere Autoren arbeiten alle mit an einer Gesellschaft der vielen, in der wir ohne Angst verschieden sein können. Diese Arbeit muss von vielen getragen und verhandelt werden.

Das »Ministerium für Mitgefühl« ist eine Gruppe aus Autoren und Künstlern. Ohne Mitgefühl ist für jeden von uns die eigene Arbeit undenkbar.

Ein weiteres Kollektiv, in dem ich mitarbeite, ist das »Ministerium für Mitgefühl«. Es wurde 2018 gegründet, unter anderem als Gegenstück zu Horst Seehofers »Heimatministerium«, das aus unserer Sicht schon in seinem Titel Menschengruppen ausgrenzt. Das »Ministerium für Mitgefühl« ist eine Gruppe aus Autoren und Künstlern. Im Zentrum steht das Mitgefühl, ohne das für jeden von uns die eigene Arbeit undenkbar wäre, auf ganz verschiedene Weise.

Der israelische Schriftsteller Etgar Keret sagt zum Beispiel, das Mitgefühl sei der schwächste Muskel im menschlichen Körper. In diesem Sinne geht es darum, genau diesen zu trainieren. Mitgefühl ist ja etwas, das erlernt und geübt werden kann.

BAHNHOF Meine künstlerischen Werke entstehen oft eigens für Räume, in denen sie auftauchen. Ich arbeite häufig mit farbiger Tusche und Papier – einem chinesischen Reispapier, das traditionell für Kalligrafie benutzt wird. Es ist ganz dünn und fein, gleichzeitig aber sehr robust. Ich glaube, dass jede Form künstlerischer Arbeit direkt mit etwas Seelischem zu tun hat.

Meine letzte große Arbeit habe ich in der ehemaligen Wandelhalle in Bad Tölz erstellt. Der Boden der Halle hat eine fast unsichtbare leichte Wölbung. Dadurch strahlte die Farbe enorm in den Raum hinein. Sie entwickelte etwas Auratisches – was sehr schön war. Bei dieser Arbeit musste ich viel an Rachel Elior und ihren Kurs in Stockholm denken. Sie ist Gershom Scholems Nachfolgerin an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie sagt, alles Religiöse besteht eigentlich darin, dass man etwas eine Form gibt, was man nicht sehen kann.

Ich habe das Gefühl, dass es sich mit der Kunst sehr ähnlich verhält: dass man etwas eine Form gibt, wovon man erst einmal nur eine Ahnung hat.

Das Minzgrün des Weißrussischen Bahnhofs in Moskau ist eine Farbe, mit der hier niemand einen Bahnhof streichen würde.

In einer anderen Arbeit ging es darum, dass ich Farben aus unterschiedlichen kulturellen Räumen gesammelt habe. In Litauen zum Beispiel habe ich mir ein Stück ­Zaunfarbe mitgenommen. In Schweden hatte ich Transparentpapier, auf das ich Dinge abgepaust habe.

Ich nahm an, dass jeder kulturelle Raum auch einen eigenen Farbraum bildet. So untersuchte ich, was eine Farberscheinung mit dem Ort, an dem sie auftaucht, zu tun hat. Diese Überlegung hat für mich etwas mit Migration zu tun – und mit der Idee, wie sich ein bestimmter Farbton, der an einem Ort vorkommt, an einem anderen, entfernten Ort anfühlt. Das Minzgrün des Weißrussischen Bahnhofs in Moskau etwa ist ein Grün, mit dem hier niemand einen Bahnhof streichen würde.

PLÄNE Derzeit bereite ich mich für die Gruppenausstellung Family Business im Berliner Centrum Judaicum vor. Sie wird im Januar 2020 eröffnet und anschließend auch in Polen und Israel gezeigt. Parallel arbeite ich weiter an einem Langzeitprojekt, für das ich meine Großeltern und ihre Freundeskreise interviewe.

Ich bin auch gespannt, wie es mit »Jalta« weitergeht. Ich denke, unsere Stimme wird immer wichtiger in einer komplexer werdenden Gesellschaft. Insofern freue ich mich, mit dem »Ministerium für Mitgefühl« in seinen verschiedenen Formaten dazu beizutragen, den Muskel des Mitgefühls zu stärken.

Aufgezeichnet von Eugen El

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