Porträt der Woche

Mit Fingerspitzengefühl

Lebt bis heute in seiner Geburtsstadt Potsdam: Hans Schulz (47) Foto: Alicia Rust

Porträt der Woche

Mit Fingerspitzengefühl

Hans Schulz repariert Fahrräder und spricht mit seinen Kunden auch über Israel

von Alicia Rust  05.12.2025 13:24 Uhr

Meine Mutter hat ein Tattoo mit Engelsflügeln auf ihrem linken Arm. Ursprünglich hat sich dort die Nummer befunden, die ihr als Kind im Lager eintätowiert wurde. Ich habe diese Zahlenreihe zwar immer wahrgenommen, doch wir haben nie darüber gesprochen, ich habe es auch nie gewagt, sie danach zu fragen. Im Alter von 80 Jahren hat sie die Zahlen, die mit einer traumatischen Erinnerung verbunden sein mussten, mit einem Symbol der Hoffnung und der Liebe übertätowieren lassen.

Im Bewusstsein, jüdisch zu sein, bin ich zwar aufgewachsen, doch es war nie ein großes Thema bei uns, was auch daran gelegen haben mag, dass ich 1978 in Potsdam geboren wurde, wo ich heute noch lebe. Eine jüdische Herkunft hing man damals nicht an die große Glocke. Meine Mutter war immer vorsichtig und zurückhaltend, was das betraf, so bin ich groß geworden. Das änderte sich dann spätestens nach der Wiedervereinigung. Ein Großteil unserer Familie lebte nämlich im Westteil Berlins, zu ihnen, insbesondere zu den Geschwistern meiner Mutter, haben wir wieder Kontakt aufgenommen.

Meine Tante Heidi und mein Onkel Tom leben in Harlem

Eine Cousine meiner Mutter lebt in Amerika. Zu ihr bin ich erstmals im Alter von 20 gereist. Seither ist Tante Heidi eine Art Vize-Mutter für mich, sie und mein Onkel Tom – er ist Afroamerikaner – leben im New Yorker Stadtteil Harlem, wo sie ein altes heruntergekommenes Haus gekauft und dann liebevoll renoviert haben. Seither betreiben sie ein wunderschönes kleines Hostel für überwiegend europäische Gäste. Ich besuche sie einmal im Jahr, meist im November, und packe überall mit an, wo Hilfe gebraucht wird. New York ist zu meinem zweiten Zuhause geworden. Dort wird man schon nach einigen Tagen von den Menschen auf der Straße begrüßt. Amerikaner sind in vielerlei Hinsicht offener und unkomplizierter als die Menschen hier.

Tante Heidi lebt ein frohes Judentum, durch sie habe ich viel gelernt und dabei auch über mich erfahren, über unsere Familie. Die Schwester meiner Mutter war auch immer sehr mit dem Judentum verbunden, zumal sie mit einem ungarischen Juden aus Budapest verheiratet ist. Onkel Alfred Liedermann war ebenfalls ein wichtiger Bezugspunkt für mich. Er war eine väterliche Figur, da ich ohne Vater aufgewachsen bin.

Zu meiner Mutter habe ich ein inniges Verhältnis. Wir sehen uns jede Woche, meist besuche ich sie am Sonntag. Bis zu ihrer Pensionierung hat sie als Kinderkrankenschwester in einer Klinik gearbeitet, mit viel Hingabe und Leidenschaft. Sie ist einfach ein guter Mensch und war immer für andere da. Privat lebte sie zurückgezogen, das hat natürlich als Kind auf mich abgefärbt. Genau wie sie bin ich eher der introvertierte Typ. Das bunte, laute, lebendige und fröhliche Judentum habe ich erst später durch meine jüdischen Verwandten kennengelernt.

Ich trage immer einen Anstecker, auf meinem Rad weht meist die israelische Flagge.

Meine Mutter Inge war 44 Jahre alt, als sie mich bekam, sie ist Jahrgang 1934, und man kann sich vorstellen, wie das für ein jüdisches Kind gewesen sein muss, das in diese schreckliche Zeit hineingeboren wurde. Für ein Mädchen, das so früh in der Kindheit bereits mit seiner Familie in den Untergrund musste, um zu überleben. Für einen langen Zeitraum hielt sich die Familie mitten in Berlin versteckt.

Ihr Vater, mein Großvater, Rudolf Ehrenberg, den ich nie kennengelernt habe, hatte eine Autowerkstatt für die Filmindustrie, er hat die Autos der Schauspieler und für den Film repariert. Von ihm habe ich vermutlich mein handwerkliches Geschick geerbt. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, ist er nach Australien geflohen, und von dort kam er nie mehr zurück. Seine Frau und seine vier Töchter blieben in Nazideutschland zurück. Die Geschwister wurden auseinandergerissen, meine Mutter ist bei ihrer Tante aufgewachsen. Ein Teil der Familie, darunter meine Großmutter Sahra Ehrenberg, landete mit einer ihrer Töchter im Westen. Das alles habe ich allerdings erst im Alter von 20 Jahren erfahren.

Dass ich einmal Zweirad-Mechaniker werden würde, habe ich einem Schülerjob zu verdanken. In unserem Wohnblock hat damals ein Radladen eröffnet, und ich begann dort für etwas Taschengeld zu jobben. Bald fing ich Feuer für diesen Beruf.

Ich mochte meine Arbeit und das gute Klima unter den Kollegen

Natürlich hätte ich nach dem Abitur studieren können, das lag nahe, zumal ich einen sehr guten Notendurchschnitt hatte. Doch ich mochte meine Arbeit und das gute Klima unter den Kollegen, den
Facettenreichtum, den dieser Beruf mit sich bringt. Als Fahrrad-Mechaniker repariert man ja nicht einfach nur Räder. Dazu gehört auch ein beachtlicher Teil an Organisation und Management.

Der Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen ringt einem Fingerspitzengefühl ab. Du musst genauso in der Lage sein, mit einem Professor zu diskutieren, wie mit einem Kind, das mit einem kaputten Rad ankommt. Zu unseren Kunden zählen Milliardäre wie Arbeits- oder Obdachlose, wir begegnen älteren Menschen wie jungen, sämtlichen Kulturen und sozialen Schichten. Das ist recht spannend, und man merkt schnell, was die Menschen so antreibt, ob sich jemand über eine verlorene Ventilkappe aufregt oder ob einer ganz entspannt damit umgeht, wenn ein teures Manufakturrad einen Schaden hat.

Während ich viele Jahre lang mit meiner jüdischen Herkunft verhal­ten umgegangen bin, verstecke ich mich heute nicht mehr, insbesondere seit den Ereignissen am 7. Oktober 2023, die für mich ein Schock waren. An meinem Sweatshirt oder an meiner Jacke trage ich immer einen Anstecker mit der israelischen Flagge, und an meinem Fahrrad weht sie meist hinten.

Ich hatte nie das Bedürfnis, mich zu verstecken

Einige Kunden sprechen mich darauf an, und ich muss sagen, dass ich nie Angst hatte, nie das Bedürfnis, mich zu verstecken. Rund 95 Prozent der Gespräche, die daraufhin entstehen, sind positiv. Die meisten Menschen wissen wenig bis gar nichts über das Judentum, und das ist immer eine gute Gelegenheit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Auch, um Stereotype und Vorurteile abzubauen.

Manchmal outen sich auch andere Juden, so wie kürzlich eine Kundin, die aus Moldawien kommt. Solche Menschen sind dankbar dafür, dass ich mich zum Judentum bekenne. Es verstecken sich derzeit sehr viele Menschen aus Angst vor antisemitischen Übergriffen.

Die Arbeit bestimmt einen Großteil meines Alltags. Zweirad-Mechaniker ist ein Rundum-Job.

Die Arbeit bestimmt einen Großteil meines Alltags. Zweirad-Mechaniker ist ein Rundum-Job, und er wird – meiner Meinung nach – stark unterschätzt. Ich wollte nie einen Nine-to-five-Job, deshalb werde ich mich auch nicht beklagen.

Um die rund zehn Stunden Arbeit am Tag durchzuhalten, von denen ich einen Großteil auf den Beinen bin, halte ich mich fit. Zu meinem Morgenritual als Frühaufsteher gehört es, eine Stunde Zeit für mich zu haben – um in die Gänge zu kommen, um meinen Kraftsport zu machen, um dabei Musik zu hören und um den Kopf freizubekommen. Welche Art von Musik ich dabei höre, ist egal. Ich höre genauso gern klassische Musik wie Jazz, manchmal sogar Punkrock oder Hip-Hop.

Abgesehen von regelmäßigen Besuchen in den USA liebe ich Südafrika

Wichtig ist mir auch das Reisen. Abgesehen von regelmäßigen Besuchen in den USA, die ja weniger Urlaub sind und mehr einem Familienbesuch gleichen, liebe ich Südafrika. Die Weite, die Natur, diese unglaublichen Menschen!

Wenn ich zurück in Deutschland bin, wundere ich mich oft, worüber sich die Leute hierzulande so beklagen. Wir sollten uns öfter vor Augen führen, dass ein Großteil der Menschen davon träumt, was wir hier an Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand und Bildung für selbstverständlich erachten. Jeder, der einmal in einem Land gewesen ist, wo es viel Armut, Gewalt oder sichtbare Not gibt, wird vermutlich ähnliche Gedanken haben.

Wenn meine Mutter nicht wäre – sie ist inzwischen 91 Jahre alt und zum Glück immer noch fit und bei bester Gesundheit –, wäre ich womöglich schon längst in die Staaten ausgewandert. Im Hostel, das meine Tante und mein Onkel in Harlem betreiben, könnten sie sicher eine helfende Hand gebrauchen. Ich habe auch Freunde in Südafrika, die einen Fahrradladen haben – dort zu arbeiten, könnte ich mir auch vorstellen. Es ist immer von Vorteil, woanders noch eine Option zu haben.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

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