Porträt der Woche

»Mein Glaube gibt mir viel«

Anna Fuhrmann studiert Biochemie und setzt sich für Diversität im Judentum ein

von Annette Kanis  10.10.2021 11:56 Uhr

»Es gibt viele Themen, bei denen ich das Gefühl habe, ich kann im Sinne von Tikkun Olam einen Beitrag leisten«: Anna Fuhrmann (24) lebt in München Foto: Lydia Bergida

Anna Fuhrmann studiert Biochemie und setzt sich für Diversität im Judentum ein

von Annette Kanis  10.10.2021 11:56 Uhr

Als die UEFA im Juni zur Fußball-Europameisterschaft ein Verbot aussprach, die Münchner Allianz Arena in Regenbogenfarben zu illuminieren, sind wir als »Keshet München« gemeinsam mit dem Verband Jüdischer Studenten in Bayern (VJSB) zur Arena gefahren und haben dort mit Davidstern-Pride-Flaggen ein Zeichen gesetzt.

Die Sexualität und das Geschlecht sind keine politischen Verhandelbarkeiten, und für uns als queere und nicht-queere Juden war es selbstverständlich, in dieser Situation Präsenz zu zeigen. Eine Freundin, Alice Kolesnichenko, und ich hatten letztes Jahr an Chanukka den jüngsten Ableger von Keshet Deutschland gegründet, einem Verein, der sich für die Rechte von und den Umgang mit LBGTQI*-Jüdinnen und Juden einsetzt.

Manchmal fühle ich mich als liberale und linke Jüdin in München nicht repräsentiert durch den Konservatismus hier. Themen, die mir am Herzen liegen, finden mehr Raum bei einem Verband wie dem unseren, etwa Queerness im Judentum, Feminismus, Diversität an religiösen Strömungen und Kulturen im Judentum. Vor einem Monat hatten wir zum Beispiel eine Lesung organisiert mit dem 95-jährigen queeren Holocaust-Überlebenden Harry Raymon.

An der Berkeley University befasste ich mich mit erneuerbaren Biokraftstoffen.

Wenn man über Judentum spricht, hat man häufig ein ganz festes Bild vor Augen, sowohl als deutsche Mehrheitsgesellschaft als auch innerhalb unserer eigenen Community. Mit diesen festgesetzten Bildern zu brechen, sie zu hinterfragen, ist mir persönlich ein Anliegen.

FESTJAHR Häufig erlebe ich, dass im Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« ein komplett falsches Narrativ vorgegaukelt wird, womit ich mich als Jüdin überhaupt nicht identifizieren kann. Für mich ist es eine Kollision zwischen Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung. Das Festjahr soll ja positiv konnotiert sein. Meiner Meinung nach ist die Verfolgungsgeschichte, die nicht erst 1933 begann, mit Absicht außer Acht gelassen worden, um der deutschen Gesellschaft mit lebendigen, immigrierten Jüdinnen und Juden eine Absolution auszusprechen mit ihrer Existenz. Die Frage, die ich mir stelle bei diesem Festjahr, ist: Für wen wird »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« inszeniert? Und wie werden diese 1700 Jahre inszeniert?

Es ist doch auch heute so, dass Freundinnen und Freunde von mir sich nicht mit einem Davidstern auf die Straße trauen. Das trifft jetzt absolut nicht auf mich zu, weil ich meinen Davidstern immer öffentlich trage. Ich verstecke ihn nicht.
Bei blühendem Antisemitismus auf Deutschlands Straßen denke ich mir: »Ihr wollt mich hier nicht haben? Ich gehöre aber auch hier dazu, jetzt erst recht.« Solche Perspektiven, wie die der Kontinuität jüdischer Widerständigkeit zum Beispiel, wären in dem Festjahr wichtig.

Im Januar habe ich dem Bayerischen Rundfunk ein Interview gegeben. Ich wurde gefragt, was 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland mir persönlich bedeuten. Meine Antwort »Widerstand« stieß auf Irritation und wurde nicht ausgestrahlt, weil das nicht in ein Friede-Freude-Eierkuchen-Narrativ passt.

IDENTITÄT Die Frage nach meiner Identität ist unglaublich komplex und beschränkt sich nicht auf die Nationalität meines Passes. Deutschsein macht einen Teil meiner Identität aus, allerdings hadere ich mit der Selbstbezeichnung als »Deutsche«.

Dass ich jüdisch bin, dass ich ukrainische Migrantin bin, dass ich eine Frau und Feministin bin, dass ich Naturwissenschaftlerin bin, dass ich politisch engagiert bin – das sind alles Eigenschaften, die mindestens genauso bezeichnend für meine Identität sind. Deswegen ist es für mich auch selbstverständlich, mich politisch zu engagieren, meine Perspektive aufzeigen und mich für Menschenwerte einsetzen zu können.

Es für mich auch selbstverständlich, mich politisch zu engagieren und mich für Menschenwerte einzusetzen.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass immer nur dieselben Jüdinnen und Juden ihre Meinung kundtun, als ob sie eine Deutungshoheit hätten. Mir ist es wichtig, ein diverses und pluralistisches Bild des Judentums zu vermitteln und zu zeigen, dass Meinungsvielfalt eine Bereicherung ist. Es gibt nicht die eine jüdische Community.

CO2-FUSSABDRUCK Nach München bin ich im Februar 2020 gezogen für meine Bachelor-Thesis, meine erste Abschlussarbeit, da mein Toxikologie-Professor mich empfohlen hat. Ich habe eine naturwissenschaftliche akademische Laufbahn eingeschlagen, da ich mich sehr für Wissenschaft begeistere und mir mit einem Biochemie-Studium viele Türen offenstehen.

Die vergangenen Monate waren geprägt von meiner Arbeit über Leberkrebsforschung, mein Praxissemester an der Berkeley University of California befasste sich mit erneuerbaren Biokraftstoffen. Es gibt viele Themen, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich im Sinne von Tikkun Olam einen Beitrag leisten kann, die Welt zu verbessern. Vielleicht in der Medikamentenentwicklung oder bei der Forschung, den CO2-Fußabdruck zu senken und dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen.

Vor drei Wochen habe ich meine Bachelor-Thesis erfolgreich verteidigt. Davor war ich eigentlich von Montag bis Freitag im Labor, um Experimente zu machen und parallel dazu an meiner Bachelor-Thesis zu schreiben. Jetzt kann ich ein bisschen entspannen, was die Uni angeht, bis mein Masterstudium beginnt, und widme mich verschiedenen ehrenamtlichen Projekten sowie meinem Nebenjob bei »Meet a Jew«. Ich bin Regionalkoordinatorin des Projekts für Bayern.

Auf Instagram und Twitter stelle ich seit Kurzem feministische Jüdinnen aus der ganzen Welt vor.

Privat, auf meinem Instagram- und Twitter-Account, habe ich kürzlich ein Projekt gestartet, »Jewish Feminist Friday Shabbes«. Hier stelle ich feministische Jüdinnen aus der ganzen Welt vor.

Für mich ist es sehr spannend, und es stößt auf Interesse. So habe ich zum Beispiel über Ofra Haza geschrieben, die beim Eurovision Song Contest mitgemacht hat, über Lesley Gore, eine lesbische Sängerin, über Adi Keissar, eine israelische Poetin aus dem Jemen, die sich in der Antirassismus-Szene engagiert, über Rosa Luxemburg und andere jüdische Sozialistinnen. Ich möchte ein Bild des Judentums aufzeigen, das nicht eurozentrisch, nicht männlich dominiert ist.

RELIGION Ich interessiere mich sehr für Kunst und Kultur, besuche oft die Pinakotheken, das Lenbachhaus oder die Oper. Ich mag aber auch sehr gerne Klubs, tanzen, abends feiern gehen.

Freundschaften und zwischenmenschliche Beziehungen geben mir sehr viel. Ich bin sehr dankbar für alle, die mich unterstützen, weil mein politisches Engagement natürlich nicht immer auf Lob und positives Feedback stößt, sondern ich bin Kritik ausgesetzt von verschiedenen konservativen Stimmen innerhalb und außerhalb der jüdischen Community.

Freitagabends bin ich meist im Gottesdienst in der Georgenstraße anzutreffen. Das gibt mir Routine, Stabilität und eine wöchentliche Möglichkeit der Reflexion. Mein Glaube gibt mir viel.

GIUR Ich wurde in der Ukraine geboren, mit dreieinhalb Jahren kam ich nach Deutschland. Zuerst waren wir in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Heidelberg, kurz bevor ich in die Grundschule kam, zogen wir nach Mannheim. Mein Papa ist jüdisch, meine Mama nicht. Als ich erfahren habe, dass ich jüdisch bin, habe ich mich auch als jüdisch identifiziert und bin dann auch jüdisch sozialisiert worden. Nach dem Abitur habe ich einen Giur angefangen.

Als meine Eltern aus der Ukraine nach Deutschland immigriert sind, wurde mein Nachname als »Furman« übersetzt. Meine Eltern haben eine Namensänderung beantragt, damit er deutscher, assimilierter geschrieben wird. Jetzt ist die Schreibweise »Fuhrmann«, und ich bekomme keine irritierten Fragen, weshalb ein H und ein N fehlen und der Name zwar deutsch klingt, aber irgendwie falsch geschrieben ist.

Das ist eine Frage, mit der ich mich auch viel beschäftige. Wie deutsch bin ich? Was macht Menschen deutsch? Inwiefern bin ich eine Jüdin in Deutschland oder eine deutsche Jüdin? Welche Rolle spielen meine ukrainischen und nichtjüdischen Wurzeln? Wie jüdisch hat mich mein Giur gemacht, und wer hat mich als patrilineare Jüdin nie als jüdisch akzeptiert und wird es auch jetzt nach meinem liberalen Giur nicht tun? Inwiefern wird meine jüdische Zugehörigkeit mir institutionell abgesprochen? Und wie viel Wert soll ich diesen Stimmen überhaupt geben?

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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