Interview

»Mehr Offenheit tut gut«

Koordinator und Mitarbeiter mobiler Impfteams: der Frankfurter Arzt und Ethik-Experte Leo Latasch (r.) Foto: Rafael Herlich

Herr Latasch, Sie sind in Frankfurt und Umgebung mit einem mobilen Team als Impfarzt im Einsatz. Was läuft gut beim Impfen gegen Corona, was weniger gut?
Wir sind sehr beansprucht durch die Dokumentationspflicht. Bevor ich einen Patienten impfe, muss ich mir fünf Seiten durchlesen, die vorher der Patient gelesen und unterschrieben haben muss. Das sind fünf bis sechs Unterschriften, bevor ich dem Patienten überhaupt nahekomme. Die Dokumente werden eingescannt, und der Patient erhält sie zurück. Wenn die Regierung möchte, dass das Impfen in großem Stil weitergeht, muss sie sich da kurzfristig etwas einfallen lassen. Gesundheitsminister Jens Spahn stellt sich hin und sagt: Ab dem 7. Juni können die Betriebsärzte impfen. Ich impfe im Auftrag der Johanniter in Frankfurt, und wir haben Anfragen von großen Firmen, bei denen es um 10.000 Impfungen geht – zwei der größten Banken sind darunter. Weder die Frage der IT, also der Dokumentation, noch die Frage, woher das Material kommen soll, ist beantwortet. Gar nichts ist geregelt. Und die Leute haben die leeren Versprechungen der Politik satt.

Wie arbeiten Sie?
Ich koordiniere für die Johanniter-Unfallhilfe in Frankfurt 55 Ärztinnen und Ärzte, ich impfe aber auch selbst. Jeden Tag sind vier bis fünf mobile Impfteams unterwegs, zum Beispiel in Altenzentren oder Behindertenwerkstätten.

Sind Sie selbst geimpft?
Alle in meinen Impfteams sind geimpft. Ich noch nicht, das hat aber einen medizinischen Grund. Ich warte noch auf einen Impfstoff, der eigentlich jetzt hätte kommen sollen, produziert in Indien. Aber jetzt ist eingetreten, was wir befürchtet haben: Indien sperrt seit etwa einer Woche die Ausfuhr von Impfstoff, weil sie selbst eine Milliarde Menschen impfen müssen. Wie bei »America first« heißt es jetzt »India first«, was man natürlich auch verstehen kann. Und deswegen werden wir jetzt bald erleben, dass zum Beispiel deutlich weniger Impfstoff unter anderem von AstraZeneca zu uns kommt, der auch dort produziert wird.

Als Impfarzt kennen Sie sicherlich auch die Diskussion um die siebente Impfdosis in den Ampullen von BioNTech. Was machen Sie denn damit?
Das Problem ist: In einer Ampulle ist tatsächlich genug Impfstoff für sieben Dosen, offiziell sind aber nur sechs zugelassen. Und sollte es tatsächlich zu einem Impfschaden oder einem Zwischenfall kommen, dann erlischt die Arzthaftung, egal, ob es die dritte oder die siebente Dosis war: Wenn Sie der Arzt sind, der eine Dosis zu viel rausgeholt hat, dann tragen Sie die Verantwortung. Aber ja, es wird gemacht, weil wir alle der Meinung sind: Je mehr Menschen geimpft werden, umso besser. Es wird nicht regelmäßig gemacht, aber manchmal ist es so: Sie haben 30 Patienten. Dafür bekommen Sie fünf Ampullen. Fünf mal sechs Dosen. Jetzt kommt aber einer und sagt, wir haben da ein bis zwei Mitarbeiter, die haben sich nicht rechtzeitig gemeldet. Für zwei Leute machen Sie keine Ampulle mit sechs Dosen auf, sondern Sie rufen die Impfkoordination an und sagen: Darf ich zwei Dosen mehr nehmen? Und wenn Sie ein Okay bekommen, dann holen Sie zweimal eine siebente Dosis raus und impfen die Menschen damit.

Im Moment werden in vielen Bundesländern Menschen der Priorisierungsgruppe 3 geimpft. Sollten bald alle dran sein?
Wenn ich sehe, wer jetzt alles in Priorisierungsgruppe 3 ist, dann könnte man die Impfungen auch gleich für alle öffnen. Im Juni, denke ich, wird das der Fall sein. Dann könnte nur noch ein Problem sein, ob wir genügend Impfstoff und Material bekommen. Wir verwenden bestimmte Spritzen, die haben mal unter zehn Cent gekostet. Im Moment kosten sie einen Euro, und Sie kriegen sie nicht auf dem Markt. Im Moment fehlt Impfstoff der Firma BioNTech, wir weichen auf Moderna und auch wieder verstärkt auf AstraZeneca aus. Es gibt ja die Empfehlung der Ständigen Impfkommission STIKO, Menschen unter 60 Jahren, die zum ersten Mal mit AstraZeneca geimpft wurden, beim zweiten Mal mit Impfstoff von BioNTech zu impfen – wegen der möglichen Nebenwirkungen von AstraZeneca. Die STIKO ist aber keine Bundesbehörde, sondern eine Kommission, die die Bundesregierung berät. Es gibt aber bisher keine Studien, die die Wirksamkeit dieses Vorgehens belegen. Ich impfe im Moment viele jüngere Menschen in Impfgruppe 2 mit AstraZeneca, und 90 Prozent dieser Menschen wollen auch beim zweiten Mal diesen Impfstoff. Und ich finde das auch richtig so, wenn die Menschen über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt sind. Aus seriösen Untersuchungen ist übrigens bekannt, dass man das beste »Impfergebnis« bei AstraZeneca erzielt, wenn zwölf Wochen Abstand zwischen den Impfungen liegen. Hier darf man sich einfach nicht von den Patienten drängeln lassen.

Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, beklagen, dass sie in Zukunft schlechter gestellt sein werden als Menschen mit einem abgeschlossenen Impfzyklus …
Das ist ein ganz schwieriges Problem. Ich war ja bis letztes Jahr Mitglied im Deutschen Ethikrat, der sich gegen Unterschiede zwischen Geimpften und Nichtgeimpften ausgesprochen hat. Durch das neue Bundesinfektionsschutzgesetz wurden die Menschen ja in ihren Grundrechten eingeschränkt, um alle zu schützen. Das Robert-Koch-Institut hat erklärt, die Infektionsgefahr durch einen zweimal Geimpften sei so groß wie ein negativer Abstrich. Was heißt das? Ein bisschen schwanger gibt es nicht. Wir haben auch in Frankfurt im jüdischen Altenzentrum erlebt, wo ein Großteil der Bewohner geimpft ist, dass zweimal Geimpfte trotzdem wieder an Corona erkrankt sind – aber ohne Symptome. Ob sie andere angesteckt haben, wissen wir nicht, es ist nur durch Zufall entdeckt worden. Aber es gibt kein steriles Coronavirus, wieso ist es dann wie ein negativer Abstrich zu werten? Wenn es aber so ist, dass Geimpfte nur eine leichte Form übertragen können, dann müssen Sie den Menschen ihre Grundrechte zurückgeben. Es bleiben aber Probleme. Menschen könnten in Zukunft vor einem Restaurant stehen, und der Besitzer erlaubt nur Inhabern eines Impfpasses den Zutritt. Das darf er nach dem Gesetz, weil er Privatmann ist – auch wenn ich damit Bauchschmerzen habe. Das könnte auf eine indirekte Diskriminierung hinauslaufen. Es gibt keinen Impfzwang, aber durch die Hintertür wird er doch eingeführt.

Sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des jüdischen Altenzentrums geimpft?
Weniger als die Bewohner – es gibt auch Ressentiments. Als zuständiger Dezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt kann und werde ich niemanden zwingen. Aber ich habe auch allen gesagt, sie sollten sich mal überlegen: Wenn ihr nicht geimpft seid, müsst ihr nach dem Urlaub in Quarantäne. Ihr braucht keinen Test, wenn ihr zum Friseur oder zur Kosmetik geht, ist das kein Anreiz, auch wenn ihr vielleicht nicht völlig von der Impfung überzeugt seid? Es ist nur leider so, es wird nicht bei zwei Corona-Impfungen bleiben. Wir müssen davon ausgehen, dass man sich jedes Jahr erneut gegen Covid-19 impfen lassen muss. Ich weiß nicht, ob die nächsten fünf oder die nächsten 100 Jahre.

Die Situation ist ethisch nicht einfach – was ist die Alternative?
Es gibt keine. Wenn eine bestimmte Prozentzahl an Geimpften nicht erreicht wird, also 60 bis 70 Prozent einer Bevölkerung, und zwar weltweit, läuft sich das Virus nicht tot.

In Israel sollen bis zum Beginn des nächsten Schuljahres die Zwölf- bis 15-Jährigen geimpft werden, im Herbst vielleicht sogar schon die unter Zwölfjährigen. Wann wird es bei uns so weit sein?
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir innerhalb der nächsten vier bis fünf Monate noch nicht genügend Impfstoff haben, um auch Kinder zu impfen. Zum Glück gibt es abgesehen von wenigen Ausnahmen fast keine schweren Covid-Verläufe bei Kindern.

Haben Sie als noch nicht geimpfter Arzt keine Angst, sich anzustecken?
Ich habe großen Respekt vor dieser Erkrankung, aber keine Angst. Im März 2020 habe ich mit zwei Kollegen ein Fernsehinterview gegeben, in dem wir gesagt haben: Wird schon nicht so schlimm werden, nicht schlimmer als die 28.000 Toten der Grippewelle von 2018. Heute muss ich sagen, dass ich mich sowohl in der Einschätzung der Auswirkungen dieser Erkrankung als auch in der Todeszahl geirrt habe. Bis November 2020 lag ich richtig, aber dann nahm die Sterberate so stark zu, dass wir längst die 28.000 überschritten haben. Letztes Jahr im März gab es so gut wie niemanden in der medizinischen Welt, der sich dieses Ausmaß überhaupt vorstellen konnte.

Teilen Sie den oft gehörten Eindruck, dass die Corona-Krise in Europa und speziell in Deutschland von weniger Zuversicht und mehr Frust begleitet wurde als anderswo?
Ich denke, dass Menschen lieber die Wahrheit hören wollen, auch wenn sie nicht gut klingt – weil sie dann wissen, worauf sie sich einstellen können. Hier wurde jeden Tag etwas anderes erzählt. Der erste Lockdown hatte eine starke positive Wirkung, und alle haben sich daran gehalten. Auch in der zweiten und dritten Welle war und ist der Lockdown das Mittel der Wahl. Haben wir aber nicht wirklich gemacht. Stattdessen haben die Politiker immer gesagt: »Impfen, Impfen, Impfen«. Alles wurde auf eine einzige Karte gesetzt. Dann war der Impfstoff knapp, und die Politik stand mit dem Rücken zur Wand. Deswegen habe ich den Eindruck, es herrscht die stille Hoffnung in der Regierung, dass man den Leuten sagen kann, wenn die Impfkampagne Früchte trägt: »Seht ihr, es funktioniert doch.« Ich glaube, wenn wir das Ganze hinter uns gebracht haben, wird ein großer Riss durch die Gesellschaft gehen, zwischen Jung und Alt. Am Anfang wollten die Jungen alles tun, um die alten Menschen zu schützen. Dann wurden die Jungen immer mehr weggedrängt, sie durften nicht ins Café, sie durften nicht feiern, und jetzt sagen viele: »Wieso muss ich mich wegen der Alten zurückhalten? Sollen die sich doch zurückhalten.« Ich frage mich ehrlich, wie wir das wieder kitten sollen. Und daran ist die Politik nicht unschuldig. Die Bundesregierung hat einfach nicht verstanden, den Menschen klarzumachen, womit sie es zu tun haben.

Was wäre Ihr Vorschlag?
Mehr Offenheit tut ziemlich gut. Leider sind wir in einem Wahljahr, und keiner traut sich. Aber es wäre schön, wenn jemand sich hinstellen und zugeben würde: Vieles ist völlig schräg gelaufen, einfach nicht gut. Man müsste den Leuten klar sagen, dass es mit dem Impfen dauert. Ich mache der Bundesregierung gar keinen Vorwurf, dass anfangs nicht genügend Impfstoff eingekauft wurde. Die Europäische Union wollte mit den Firmen handeln, und die USA, Israel und England haben besser verhandelt. Aber dann kann ich den Leuten nicht erzählen, dass sie morgen einen Impftermin buchen können. Sondern dann muss ich sagen: Es ist nicht gut gelaufen. Und es läuft immer noch nicht perfekt. Aber wenn die Bundesregierung behauptet, es seien keine Fehler gemacht worden, dann stimmt das einfach nicht. Es wurden Fehler gemacht, und es werden jeden Tag Fehler gemacht.

Mit dem Facharzt für Anästhesie, Mitglied in den Vorständen der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und der ZWST und ehemaligen Mitglied des Deutschen Ethikrats sprach Ayala Goldmann.

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