Interview

»Man muss ein guter Netzwerker sein«

Zugewandt und gesprächsbereit: Michael Fürst leitet seit 42 Jahren den Landesverband Niedersachsen. Foto: picture alliance/dpa

Interview

»Man muss ein guter Netzwerker sein«

Michael Fürst über Verbandsarbeit, Hobbys und die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft

von Heide Sobotka  08.06.2022 12:07 Uhr

Herr Fürst, 75 Jahre – Masal tow! Und immer unterwegs, oder?
Ja, wir, das heißt meine Frau und ich, haben in Regensburg und Kitzbühel Golf gespielt. Und in Oberammergau wurde eine Sitzung des Kuratoriums der »Stiftung Bibel und Kultur« nachgeholt. In der Pause der Passionsaufführung haben wir Regisseur Christian Stückl mit unserem Preis ausgezeichnet. Und ich wurde, da ich nun 75 geworden bin, verabschiedet.

Sie suchen sich oft Urlaubsorte danach aus, wo Sie auch Golf spielen können. Haben Sie ein Handicap?
Meines liegt bei 21,5, das ist nicht super. Aber ich bin kein Golffanatiker, es soll vor allem Spaß machen, und das tut es.

Arbeiten Sie noch regelmäßig?
Ich habe mein Büro immer noch in Hannover und werde es natürlich behalten, solange ich Verbandsvorsitzender bin. Das heißt, ich habe zwei Wohnsitze: in Hannover und in Frankfurt, wo meine Frau lebt. Hannover ist ja nun einmal mein Geburtsort.

Sie sind in Hannover geboren, haben in Göttingen studiert und sind nach Hannover zurückgekehrt. Sind Sie bodenständig?
Es ist in der Tat sehr erstaunlich, denn dasselbe ist meinem Vater auch passiert, nur, dass ich aus Studiengründen aus Hannover weg bin. Mein Vater ist nach Riga deportiert worden. Er ist aber auch wiedergekommen – ohne, dass er es hätte begründen können. Er hat nur gesagt: »Das ist doch meine Heimatstadt, mein Geburtsort, und etwas anderes hatte ich doch gar nicht.«

Sie sind seit 1980 Vorsitzender des Landesverbandes mit zwölf sehr unterschiedlichen Gemeinden. Was reizt Sie immer noch an dieser Aufgabe?
Ich glaube, dass wir der diversifizierteste Landesverband in ganz Deutschland sind. Bei uns sind wirklich alle Richtungen vertreten – von liberal bis orthodox –, und wir unterstützen Chabad, trotz aller Probleme, die ich in Chabad sehe, aber sie sind Juden. Es macht immer noch Spaß, zu versuchen, diese verschiedenen Richtungen unter einem Dach zu führen. Was nicht einfach ist. Für mich ist es einfach.

Inwiefern ist es für Sie einfach?
Weil ich ein liberaler Mensch bin, weil ich den Zugang zu allen habe, mit allen sprechen kann, nicht versuche, ihnen eine Meinung aufzudrücken.

Gibt es eine Erfolgsformel für die Zusammenarbeit?
Wir kooperieren alle sehr gut. Und ich muss ganz klar sagen: Ohne die Loyalität und Kooperationsbereitschaft meiner Vorstandskolleginnen und -kollegen oder das Vertrauen aller anderen Gemeindevorsitzenden ginge das gar nicht. Ich bin nach den 42 Jahren, die ich das mache, der Chef, und das erkennen alle anderen an. Sie wissen aber auch, wenn da jemand wäre, der den Vorsitz zwingend übernehmen will und von dem wir alle der Auffassung sind, dass der oder die es auch kann, dann würde ich sofort sagen: Bitte übernimm das Amt.

75 Jahre fordern auch ihren Tribut. Denken Sie manchmal, vielleicht könnte ich mir auch mehr Ruhe gönnen?
Ich merke die 75 Jahre schon. Mir macht der Beruf als Rechtsanwalt Spaß, die Verbandsarbeit, die Familie, und dazu kommt dann noch Golf. Ich müsste ein bisschen mehr für meine Gesundheit tun, jeden Morgen zehn Minuten Gymnastik treiben, dafür bin ich aber eigentlich zu faul.

Wie würden Sie die Verbandsarbeit beschreiben?
Verbandsarbeit heißt nicht nur, am Telefon zu sitzen, sondern unglaublich viel netzwerken. Und das bedeutet wiederum, viele persönliche Gespräche zu führen. Ich glaube, dass gerade die Gespräche mit den muslimischen Verbänden oder palästinensischen Gemeinden meinem Verband gewaltig Ansehen verschafft haben.

Würden Sie sagen – Sie sind ja Notar gewesen und sind Rechtsanwalt –, dass die Kommunikation Ihr großer Vorteil ist?
Das ist ein riesiger Vorteil, wenn man aus dem Handgelenk heraus Gespräche führen kann, wenn man am Telefon innerhalb von Sekunden weiß, worüber man redete. Dass ich die Anwaltsarbeit und die Verbandsarbeit verbinden kann, funktioniert auch nur, weil meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Büro mitmachen und sich nicht beschweren, dass ich schon wieder unterwegs bin.

Blicken wir zurück. Wie hat sich die deutsche jüdische Gemeinschaft verändert?
Die jüdischen Gemeinden, wie sie bis 1989 bestanden, gibt es nicht mehr. Damals kannte man sich untereinander. Häufig war man miteinander befreundet. Es waren die Überlebenden, die die Gemeinden gegründet hatten, und die Kinder, die hier nach 1945 im Bewusstsein der Schoa groß geworden sind.

Zu denen Sie ja dann auch gehörten?
Wenn ich jetzt hier in der Bödekerstraße sitze, dann ist das die Straße, in der ich groß geworden bin, ich kenne jedes Haus hier, wie es nach dem Krieg aussah, ich kenne die Trümmergrundstücke. Deswegen, so glaube ich, hatten wir bis 1989 ein kleines, aber durchaus feines jüdisches Leben in Deutschland. Das hat sich danach dann doch komplett verändert. Durch die sowjetrussische Zuwanderung sind wir eine russisch-jüdische Gemeinschaft geworden. Das, was wir nach 1945 aufgebaut haben, ist darin völlig aufgegangen. Dass ich noch Vorsitzender bin, liegt auch daran, dass ich die russischsprachigen Juden gut miterfassen konnte, und diese glauben, dass ich sie gut vertrete.

Und, was glauben Sie, wohin bewegt sich das Judentum in 20 Jahren?
Wir haben das Problem des Nachwuchses, und das gilt nicht nur für die jüdischen Gemeinden, sondern das gilt für alle Verbände, für alle Vereine. Es gibt immer weniger junge Leute, die sich dauerhaft engagieren wollen. Ich verstehe, dass russischsprachige Juden hier erst einmal ankommen wollten, Deutsch lernen wollten. Aber langsam sind sie angekommen, und die jungen Leute haben tolle Jobs, sind Banker, Juristen. Sie zögern aber, sich in einer jüdischen Gemeinde einzubringen. Das hat bei einigen sicherlich damit zu tun, dass sie nicht wollen, dass man weiß, dass sie Juden sind, jedenfalls nicht so öffentlich.

Wollen Sie auch noch zwei, drei Sätze zum Abraham Geiger Kolleg sagen?
Der Fall, im wahrsten Sinne des Wortes, Homolka wird uns noch lange, aber mehr noch die liberalen Gemeinden, die ihren Heiligen verlieren, beschäftigen. Ich habe den Zentralrat bereits 1997 vor Homolka gewarnt, seiner eindeutig christlichen Funktion bei einem englischen Bischof nach der Konversion zum Judentum, seinen christlichen Predigten und dann seiner merkwürdigen Privatordination durch einen amerikanischen Rabbiner und seiner ebenso merkwürdigen Promotion. Der Zentralrat hätte schon damals einschreiten müssen.

Haben Sie sich an Ihrem 75. Geburtstag etwas Besonderes vorgenommen?
Gesund bleiben, mehr Freizeit mit meiner Frau und Naches mit meinen beiden Enkeln.

Mit dem Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen sowie der Jüdischen Gemeinde Hannover sprach Heide Sobotka.

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