Porträt der Woche

Leben mit allen Sinnen

»Es gibt keine Alternative, als weiter aufeinander zu hören«: Susanne Jakubowski (71) aus Stuttgart Foto: Brigitte Jaehnigen

Ich trage den Namen meines Vaters. Es war seine gekaufte Identität, um die Schoa zu überleben. Mordechai Jehuda Grosskopf zu heißen – dafür sind die gesellschaftlichen Umstände selten gut. Also nannte er sich Jakubowski, Jan Jakubowski. Unsere Familie stammt aus Polen, dem Teil, der früher Galizien genannt wurde. Dort wurde ich am 26. Juni 1954 in Kattowitz geboren. Meine Mutter war Halina Gonsior. Ich habe eine zwei Jahre jüngere Schwester, Barbara.

Am 1. Mai 1957 landeten wir mit einem Schiff in Haifa. »Schuld« war der Suezkrieg, auch Sinai-Feldzug genannt. In diesem internationalen Konflikt zwischen Ägypten auf der einen Seite und dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Israel auf der anderen Seite bat der israelische Hörfunk Kol Israel um Blutspenden. Meine Mutter sagte: »Ach, gehen wir doch gleich nach Israel. Dann wird das Blutspenden leichter.«

Ein Jahr später landeten wir also in Haifa. Wir bekamen eine Wohnung in Holon in einer Neubausiedlung. Ich ging in den Kindergarten und erlebte die jüdischen Feste. Dort kam ich auch in die Schule. Zu Hause wurde Polnisch gesprochen, in der Schule Hebräisch. Wegen gesundheitlicher Probleme wollten meine Eltern wieder auswandern, in die USA. Doch die US-Einwanderungsquote sprach gegen uns – und so kamen wir nach Deutschland und schließlich nach Stuttgart, wo ich bis heute mit meiner Familie lebe.

In Israel habe ich zum ersten Mal Falafel gegessen

Als wir 1961 kamen, wurde in der Stuttgarter Synagoge nach polnischer Tradition gebetet, die polnischen Überlebenden aus den DP-Camps waren in der Mehrheit. Mein Vater war ein sehr menschenfreundlicher Mann und engagierte sich bald auch im jüdisch-christlichen Dialog. Ich lernte im Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium für Mädchen und besuchte viele Tanzkurse. Mit 14 verbrachte ich ein Sommer-Machane in Israel. Dort habe ich zum ersten Mal Falafel gegessen. Es waren frische heiße Falafel mit Tahina und Rotkraut. So gute habe ich nie wieder gegessen.

Nach dem Abitur studierte ich Architektur. Schon in Holon, als Sechsjährige, hatte ich einem Nachbarjungen, als wir vor einem leeren Grundstück standen, erklärt, ich würde da eine Schule bauen. In Kunst, Mathematik und dreidimensionalem Sehen war ich immer gut.
Innerhalb der Repräsentanz der Israe­litischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) war das schließlich von Nutzen, denn ich habe die Generalplanung für die Ulmer Synagoge als Vorsitzende der Baukommission begleitet. Ebenso die Planung des Synagogenplatzes.

Schon als Kind erklärte ich einem Nachbarjungen, dass ich hier eine Schule bauen würde.

Zu Beginn war ich mit einem kleinen Architekturwettbewerb dabei, vielen Gesprächen mit den beteiligten Stadtämtern, vor allem bezüglich der flexiblen Poller, die keineswegs Begeisterungsstürme entfacht hatten, und der damit verbundenen Verkehrsberuhigung der Hospitalstraße. Und schließlich auch bei der Entscheidungsfindung, wie die Platten der zwölf Stämme ausgestaltet werden sollten. Im letzten Akt stand die Zusammenarbeit mit dem Hospitalviertelverein, um das Eröffnungsfest zu planen.

Seit ich als Mädchen in Israel war, besuchte ich den Jugendklub der Stuttgarter Gemeinde, zu den Hohen Feiertagen begleitete ich meinen Vater in die Synagoge.

Da war etwas ins Rollen gekommen. Und als Schlüsselerlebnis kann eine Einladung zu einem Sederabend bei Juden aus Persien in Pforzheim gelten. So einen Sederabend wollte ich auch zu Hause haben. Und so feierten wir jährlich Seder. Während meines Studiums gab es an der Uni einen Dialog mit palästinensischen Studenten. Damals hat man noch miteinander geredet. Es weckte mein politisches Interesse.

Als jüdische Großmutter wünsche ich mir weitere Enkel

Ich heiratete, bekam eine Tochter, mein Mann und ich trennten uns, es kam eine neue Liebe, und ich bekam eine zweite Tochter. Mein erster Mann kam aus Smyrna, heute Izmir, mein zweiter aus Warschau. Mit dem zweiten hatte ich auch eine Chuppa. Damit hatte sich ein Traum erfüllt. Jetzt habe ich einen ersten Enkel. Ich liebe ihn heiß und innig. Als jüdische Großmutter wünsche ich mir weitere Enkel, möglichst auch ein Mädchen.

Ich lade gern Gäste ein. Meine Eltern haben es uns – meiner Schwester und mir – vorgemacht. Sie führten ein gastfreundliches und herzliches Haus. Meine Mutter konnte wunderbar kochen und mein Vater backen. So wurde polnisch-jüdische Küche serviert und der beste Mohnkuchen, den es gibt. Und die Tischgespräche waren nie langweilig. Ob es Arbeitskollegen meiner berufstätigen Eltern, Familie, jüdische Freunde aus der Gemeinde oder Freundinnen waren – es war immer etwas los am Esstisch der Jakubowskis.

So halte ich es auch. Das ganze Jahr über werden Arbeitskolleginnen, Nachbarn, Freundinnen aus meiner ehrenamtlichen Arbeit, besondere Wegbegleiter und Familie eingeladen, so oft wie möglich. Ich koche gern nach den Küchen aller Mittelmeeranrainer. Kochen ist für mich keine Pflicht, sondern eine leidenschaftliche Kür! Georges Moustaki hat einmal »La Mediterranée« gesungen, und ich fühlte mich bei diesem Lied ganz besonders angesprochen.

Französische Chansons, griechischer Rembetiko, italienische Balladen, portugiesischer Fado und argentinischer Tango machen meinen Tag schöner.

Bei meinen Kontakten, auch vielen zu ausländischen Jüdinnen, vor allem in New York, hilft, dass ich mehrere Sprachen spreche. Und Social Media macht es möglich, in Kontakt zu bleiben. Wir halten unsere Freundschaften lebendig, wenn wir – je nach Kulturkreis – Deutsch, Englisch, Französisch oder Iwrit sprechen und schreiben. Auch aus dem interreligiösen Tätigkeitsbereich sind oft Freunde da. Hier bereichert mich der sprichwörtliche Blick über den Tellerrand. So ist es auch mit meiner Liebe zur Musik. Französische Chansons, griechischer Rembetiko, italienische Balladen, portugiesischer Fado und argentinischer Tango machen meinen Tag schöner.

Schon während meiner Berufstätigkeit engagierte ich mich – und tue es bis heute – in der Gemeinde, etwa in unserer Repräsentanz, davon einige Jahre im Vorstand. Mit anderen Mitgliedern gründete ich die liberale Gruppe. Die Tora wollen wir nicht ändern. Wir erreichen Menschen, die sich nicht orthodox definieren. 2015 wurde in Stuttgart der Rat der Religionen gegründet. Gemeinsam mit meinem Kollegen Michael Kashi vertrete ich die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs und bin derzeit die Koordinatorin. Wir haben auch die Jesiden und Alt-Katholiken ins Boot geholt. Wir wünschen uns ein friedliches Zusammenleben in der Stadtgesellschaft. Dafür brenne ich.

Ich registriere, dass christliche Gemeinden solidarisch mit uns Juden sind

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich unser aller Leben verändert. Ich registriere, dass christliche Gemeinden solidarisch mit uns Juden sind. Muslimische Gemeinden haben sich in den ersten Tagen des Schocks über das entsetzliche Massaker empathisch geäußert. So konnte der Stuttgarter Rat der Religionen noch zeitnah eine verurteilende Pressemitteilung herausgeben.

Ab dem Moment, in dem Israel zum Gegenangriff überging, schlug die Stimmung bei vielen Muslimen aber schnell um. Im Stuttgarter Rat hat man sich dennoch mit Äußerungen hierzu eher zurückgehalten.
Der interreligiöse Dialog hat sich in Stuttgart bisher als tragfähig erwiesen. Aber das ist nur der Ist-Zustand. Es kann jederzeit kippen. Vielleicht muss die Verzweiflung größer werden, damit die Menschen erkennen, was wirklich wichtig ist. Es gibt keine Alternative, als weiter aufeinander zu hören und miteinander zu sprechen – mit dem Wunsch, sich zu verstehen. Trotz alledem.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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