Dresden

Kyrillische Botschaften am Zwinger

Ich fühle mich so frei hier, es gibt so viele Projekte, an denen ich arbeite – wenn ich nur mehr Zeit hätte!» Elena Klyuchareva ist voller Tatendrang. Seit 2002 lebt die quirlige Regisseurin und Ballettmeisterin in Dresden. «Und der Abschied von Moskau hat mir noch keinen Tag Depressionen beschert», erzählt die 59-Jährige und lacht. Das liegt an ihrem deutschen Mann Jürgen, den sie vor acht Jahren kennenlernte. Und daran, dass sie bestens in die jüdische Gemeinde integriert ist. «Ich bin Mitglied der Repräsentantenversammlung, das ist unser ›Parlament‹», berichtet sie stolz.

Das liegt aber auch an ihrem Theater «Schule von Solomon Plyar», das sie seit sechs Jahren leitet. Dort studiert sie mit Laien, vorwiegend Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, Stücke ein, mit denen sie nicht nur in Dresden, sondern auch in anderen deutschen Städten Erfolge feiert. Außerdem ist Elena Klyuchareva Vorsitzende des Vereins «Kunstarche», der sich deutschen und russischen Theaterprojekten widmet, mit dem Ziel, die Integration zu fördern.

Familienfeiertag Seit zwei Jahren engagiert sie sich als Beisitzerin im Verband russischer Theatergruppen in Deutschland. Und als sei all das noch nicht genug, veranstaltete sie im April im Russischen Haus in Berlin eine Ausstellung anlässlich des 50. Jahrestags des ersten bemannten Raumflugs. Denn Elena Klyucharevas Vater, Viktor Michailowitsch, war von 1956 bis 1977 stellvertretender technischer Direktor des sowjetischen Raumfahrtzentrums in Moskau. «Der 12. April, der Tag an dem wir den ersten Menschen ins All schickten, war immer unser Familienfeiertag», berichtet Klyuchareva.

Wenn sich die Familie in ihrer Datsche traf, ging es mitunter aber auch um andere Themen als die Raumfahrt. Dann wurde zum Beispiel über Alexander gesprochen, den Bruder von Elenas Großmutter. Tatsächlich hieß er nicht Alexander, sondern Isaak Moiseevich Chanutin. Doch zum Schutz vor Antisemitismus änderte er seinen Vornamen. Alexander war 1945 als Soldat in Dresden gewesen. Die Stadt lag nach dem Bombardement durch britische und amerikanische Flieger im Februar 1945 in Trümmern, in vielen Gebäuden wurden Minen vermutet. Die Aufgabe ihres Großonkels war, diese Minen aufzuspüren.

Er habe den Dresdner Zwinger und das Schloss nach Minen durchsucht, so sei es in der Familie immer erzählt worden, berichtet Klyuchareva. Für sie steht deshalb fest: Es war nur scheinbar Zufall, dass ihr bei der Ausreise aus Russland Dresden als Wohnort in Deutschland zugeteilt wurde. «Das ist Schicksal!», ruft sie.

Verwitterte Zeichen Wer genau hinschaut, kann an einer Säule der Hofkirche und am Zwingereingang gegenüber der Semperoper immer noch die in den Sandstein geritzten kyrillischen Botschaften lesen: «Keine Minen, geprüft von Chanutin». Weil die Schrift am Zwinger kaum noch sichtbar ist, wurde dort sogar eine Plakette mit der deutschen Übersetzung der russischen Inschrift angebracht. Stadtführer weisen gern auf das kuriose «Graffiti» hin und viele Touristen schießen ein Foto von der originalen Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegstage mitten in Dresdens wiedererrichteter barocker Pracht.

Als Elena Klyuchareva nach Dresden kam, konnte sie die verwitterten Inschriften zunächst nicht finden. Weil es immer hieß, der Großonkel mütterlicherseits habe das Schloss auf Minen untersucht, suchte sie an der falschen Stelle. Heute ist Klyuchareva überzeugt, dass der Großonkel sich geirrt haben muss und die Hofkirche für einen Teil des Schlosses hielt.

Ein Bekannter zeigte der Neudresdnerin schließlich die 66 Jahre alten Inschriften. «Chanutin hat dazu beigetragen, Dresden zu retten», betont Elena Klyuchareva. Geschehen ist dem Minensucher nichts: Er kehrte in seine Heimat zurück und gründete eine Familie. In den 60er-Jahren starb der Vater von zwei Söhnen, ohne noch einmal in Dresden gewesen zu sein.

Namensvetter So weit die Geschichte, wie Elena Klyuchareva sie kennt. Doch Alexander Chanutin hat einen Konkurrenten, was seine Verdienste um Dresden betrifft: Iwan Chanutin. In einem kurzen Internettext über die Inschriften wird ein 20 Jahre alter Feldwebel namens Iwan als Urheber benannt. Er habe Sprengsätze unter anderem am Portal zur Sempergalerie und an der Brücke zum Kronentor entschärft.

Hatikva, die Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen, hat versucht, für eine Stadtführung zum Thema «Wer war eigentlich Chanutin?» Informationen über Iwan Chanutin zusammenzutragen. Doch die Ausbeute war spärlich. Das Gerücht besagt, Chanutin soll im Zwinger eine Liste gefunden haben, die über den Verbleib der Kunstwerke aus der Gemäldegalerie Aufschluss gab. Die Deutschen hatten die Kunstschätze aus dem Zwinger ausgelagert und unter anderem im Cottaer Tunnel und im Kalkwerk Lengefeld deponiert. Nach dem Krieg soll Iwan Chanutin als Ingenieur gearbeitet haben.

jüdischer Name Handelt es sich um eine bloße Namensverwechslung? Sind Alexander und Iwan eigentlich derselbe? Wohl kaum. Elena Klyuchareva besitzt eine Kopie des Militärausweises ihres Großonkels. Als Geburtsjahr ist 1907 angegeben. 1945 war Alexander Chanutin also schon 38 Jahre alt und keine 20 mehr. Gab es vielleicht zwei Chanutins in der Militäreinheit? Unwahrscheinlich, meint Klyuchareva. «Hätte mein Großonkel einen Namensvetter in Dresden getroffen, hätte er sicher davon erzählt. Insbesondere, weil Chanutin kein russischer, sondern ein jüdischer Name ist.»

Ein Phantom ist Iwan Chanutin aber keineswegs. Als Vladimir Chanutin, der Sohn von Alexander, die Moskauer Militärarchive um Nachweise über den Dresdner Minensuchdienst seines Vaters bat, bekam er die Antwort, dass ein Iwan Chanutin schon die gleiche Anfrage gestellt habe. Die Bitte sei aber abgeschlagen worden. Auch Vladimir erhielt keine Dokumente. Der Veteranenrat ließ wissen, er wolle sich in der Angelegenheit nicht engagieren: «›Es ist doch egal, welcher Chanutin es war, Hauptsache, es war einer von unseren Leuten.‹ Das ist die Einstellung der Militärs», kritisiert die Großnichte.

Zufrieden geben will sie sich damit nicht. «Ich werde weiter forschen, das ist meine Pflicht.» Sie hofft, dass man anhand der Nummer 548421 von Alexander Chanutins Militärausweis in den Archiven doch noch etwas herausfinden kann. Allerdings hat sie wenig Hoffnung, dass sie oder Vladimir als Privatpersonen in Moskau bei den Hütern der Dokumente viel erreichen können. «Es wäre schön, wenn wir Unterstützung von deutscher Seite bekämen, zum Beispiel von der Stadt Dresden. Schließlich geht es dabei ja um ein Stück Dresdner Geschichte.»

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