Porträt der Woche

Kultureller Botschafter

Engagiert sich als Musikdozent an der Hochschule und in der Jüdischen Gemeinde in Stuttgart: Noam Sivan (44) Foto: Sarit Uziely

Obwohl ich als Teenager auch ernsthaft Schach spielte und an Turnieren teilnahm, war es für mich keine Frage, Musik als Berufung zu wählen. Ich habe Klavier gespielt und komponiert und wollte immer mehr über Musik lernen – das Repertoire wollte ich vergrößern, mehr Stücke komponieren und Orchester- und Kammermusik erfahren und Opern kennenlernen.

Dazu kommt noch die Musiktheorie und -analyse, ich spürte also immer diese Neugierde, mehr zu lernen. Für mich ging es nie darum, Musiker zu werden, sondern um die Frage, worauf ich mich konzen­trieren sollte: Klavier spielen oder komponieren? Später entdeckte ich natürlich die Improvisation, und das war eine Möglichkeit, beides zu verbinden.

herkunft Ich wurde 1978 in Haifa geboren. Die Herkunft meiner Familie ist eine Mischung aus sefardisch und aschkenasisch, was typisch für in Israel geborene Juden ist. Die Familien meiner Großeltern stammen aus vier verschiedenen Gebieten: Damaskus in Syrien, Marokko, die Gegend von Jerusalem und Hebron und Berlin. Dort wurde mein Großvater mütterlicherseits geboren, der in den 30er-Jahren mit seinen Eltern nach Haifa auswanderte.

Meine Eltern wurden beide in Haifa geboren, und ich bin dort aufgewachsen. Mehr als 50 Jahre lang hat meine Mutter Klavier unterrichtet. Bei uns zu Hause wurde immer Klavier gespielt. Ihr Bruder war ein Pianist, der in Brüssel lebte und international Konzerte gab. Mit fünf Jahren setzte ich mich vor die Tasten und begann zu improvisieren. Bald darauf fing meine Mutter an, mich zu unterrichten. Meine beiden älteren Schwestern studierten ebenfalls Klavier, entschieden sich aber gegen den Beruf eines Pianisten.

In Israel bin ich aufgewachsen, habe aber dann die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens in New York City und die vergangenen drei Jahre in Deutschland gelebt. Meine Frau wurde in Israel geboren und wuchs dort und in den Vereinigten Staaten auf. Wir haben uns in New York kennengelernt und in Israel geheiratet. Unsere drei Kinder wurden in New York geboren.

mentalität Als ich in die USA kam, war ich ein internationaler Student und musste mich an eine andere Mentalität gewöhnen und mein ganzes Leben auf Englisch leben. Jetzt, wo ich mich damit eingerichtet habe, muss ich Deutsch lernen. Israel hat sich immer sehr angenehm angefühlt, und wir besuchen das Land oft. Ich denke, dass israelische Musiker, die im Ausland leben, kulturelle Botschafter sind. Die Menschen, die ich in der Musikwelt treffe, wissen, dass ich aus dem Land stamme. Das trägt dazu bei, dass sie die Israelis als solche wahrnehmen.

Die Wahrheit ist, dass wir mit dem Umzug nach Stuttgart glücklich sind.

Als ich Professor für Klavierimprovisation an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart wurde, oder als ich Direktor für Improvisation am Curtis Institute of Music und Fakultätsmitglied an der Juilliard School war, war ich in all diesen Fällen als israelischer Musiker bekannt, und das hat einen Einfluss. Ich persönlich halte es für ein gesundes Gleichgewicht, einen Beitrag zur Musikwelt zu leisten, während ich im Ausland bin, und gleichzeitig meine Familie und Freunde in der Heimat häufig zu besuchen, um in Kontakt zu bleiben.

Meine Frau hat auch eine große Familie in Israel. Wenn wir dort sind, verbringen wir viel Zeit mit unseren Angehörigen und machen Ausflüge in den Galil, den Negev und in verschiedene Teile des Landes. Die Kinder sprechen inzwischen drei Sprachen – Hebräisch, Englisch und Deutsch –, und sie haben Freunde auf drei Kontinenten.

improvisation In meiner Jugend und während meines Studiums habe ich Klavier und Komposition als getrennte Fächer gelernt. Es kam mir immer seltsam vor, dass sie voneinander losgelöst waren. Komponisten komponieren nur, Instrumentalisten spielen nur ihr Instrument – und niemand nimmt die Improvisation ernst. Das ist nur etwas für Partys, zum Spaß.

Einer meiner Lehrer in New York, Carl Schachter, ermutigte mich, die Improvisation ernster zu nehmen, und nach zwei Jahren Improvisationsstudium bei ihm begann ich, sie in Konzerten zu spielen. Nach ein paar Jahren unterrichtete ich Improvisation – zunächst am Mannes College, später am Curtis Institute und an der Juilliard School.

Die Nachfrage wurde immer größer, und schon bald unterrichtete ich das Fach für alle verschiedenen Instrumente, auch für Sänger. Aus dem Feedback meiner Studierenden und Kollegen habe ich erkannt, dass Improvisation wichtig für ihre musikalische Entwicklung ist und sie in der Musik lange Zeit gefehlt hat. Ja, sie blühte während des Barocks, der Klassik und der frühen Romantik auf, aber dann verschwand sie aus der klassischen Musik, während sie im Jazz und anderen Stilen aktiv blieb.

Hauptfach So kam ich auf die Idee, einen Master-Studiengang für Improvisation einzurichten, in dem die Studenten sie als Hauptfach und nicht nur als Wahlfach studieren könnten. Die Idee war revolutionär, da es nirgendwo sonst ein solches Programm gab, ich schlug sie der Verwaltung und den Kollegen vor.

Dies führte dazu, dass an den Orten, an denen ich in den USA unterrichtete, mehr Improvisation angeboten wurde – Improvisation für Kammermusik, Barockimprovisation, Improvisation für Pianisten und Organisten und so weiter. Ein komplettes Masterprogramm für Improvisation gab es noch nicht, aber es schien etwas zu sein, das in ein paar Jahren kommen könnte.

Dann bekam ich eine E-Mail von der HMDK Stuttgart, in der ich gefragt wurde, ob ich mich auf eine Professur für Klavierimprovisation bewerben wolle – was auch die Einführung eines neuen Masterstudiengangs beinhalte. Ich bewarb mich und bekam die Stelle. Schließlich musste ich mich entscheiden, ob ich sie annehmen und mit meiner Frau Maya und unseren drei Kindern von New York nach Stuttgart ziehen sollte.

orchester Gemeinsam kamen wir zu dem Ergebnis, dass dies der richtige Schritt ist. Eine Zeit lang verging kein Tag, an dem mich nicht jemand fragte: »Von Juilliard nach Stuttgart?« Aber die Wahrheit ist, dass wir mit dem Umzug glücklich sind, sowohl als Familie als auch in Bezug auf das, was wir hier tun. Der neue Masterstudiengang ist einer der ersten seiner Art weltweit. In den nächsten zwei Jahren werde ich außerdem Composer-in-Residence beim Stegreif-Orchester in Berlin sein und die musikalische Improvisation auf ein Orchester ausweiten.

Als Familie sind wir Teil der jüdischen Gemeinde in Stuttgart.

Als Familie sind wir Teil der jüdischen Gemeinde in Stuttgart. Wir waren uns der Tatsache bewusst, dass wir aus dem Stadtteil Washington Heights in Manhattan, New York City, mit zehn verschiedenen Synagogen in fußläufiger Entfernung zu unserem Haus nach Stuttgart ziehen – wo es nur eine einzige Synagoge in der ganzen Stadt gibt. Aber das macht unsere Rolle in der jüdischen Gemeinschaft sinnvoll.

Da ich zum Beispiel ein Levi bin, mache ich jeden Schabbatmorgen in der Synagoge die zweite Alija während der Lesung der wöchentlichen Parascha aus der Tora. Also, ja, wir gehen jede Woche hin. Außerdem organisieren wir an allen jüdischen Feiertagen Veranstaltungen oder nehmen an solchen teil. Zudem beherbergen wir in unserem Wohnzimmer die hebräische Bibliothek von Stuttgart.

identität In unserer Familie haben wir eine starke jüdische Identität. Sie ist Teil unseres täglichen Lebens, und die Kinder sind damit aufgewachsen. Sowohl Maors Barmizwa vor zwei Jahren als auch Nogas Batmizwa waren bedeutungsvolle Ereignisse mit starkem jüdischen Inhalt. Besonders wenn man bedenkt, dass die Kinder in New York als Kinder israelischer Eltern geboren wurden und jetzt in Deutschland leben, ist die jüdische Erziehung wichtig, um das Gemeinschaftsgefühl und die Identität zu stärken.

Was das Schulleben unserer Kinder betrifft: Während wir uns zu Hause auf Hebräisch unterhalten, sprechen alle drei in der Schule Deutsch. Ihre Lehrer und Freunde wissen, dass wir Juden sind und sie an jüdischen Feiertagen nicht die Schule besuchen. Sie haben Freunde in der Schule, in der jüdischen Gemeinde, Freunde in New York und unsere Familien in Israel. Sie haben gelernt, dass es verschiedene Gruppen von Menschen gibt und es möglich ist, in unterschiedlichen Sprachen und über Themen in verschiedenen sozialen Gruppen zu sprechen.

Sie sind sehr musikbegeistert. Maor (14) spielt Klavier, Noga (12) übt Geige und Zohar (9) Cello. Ich unterrichte sie alle in Improvisation und Komposition, weil ich glaube, dass es wichtig ist, Kreativität zu lernen. Vergangenes Jahr haben sie beim internationalen Oskar-Rieding-Wettbewerb für Interpreten-Komponisten den ersten Preis gewonnen. Auch beim jährlichen Wettbewerb »Jugend musiziert« in Deutschland haben sie die besten Noten erhalten. Dass meine Kinder meine musikalische Leidenschaft teilen, macht mich glücklich.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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