Berlin

Im Sinne der Schöpfung

Das Judentum bietet keine einfachen Lösungen an, dafür aber »sehr viel Weisheit«, meint Chayim Schell-Apacik. Foto: Gregor Zielke

Die Praxis von Dr. Chayim Schell-Apacik ist leicht zu finden. Der moderne Glaskomplex gleich links hinter dem Eingang auf dem sonst eher backsteindominierten Gelände der Charlottenburger DRK-Kliniken Westend wirkt hell und freundlich. »Die Lage ist ideal«, sagt Schell-Apacik mit Blick aus seinem Praxisfenster und zeigt auf die benachbarten Gebäude: Nebenan das Zentrum für Onkologie und gleich dahinter das Fertility-Center, so ist der 48-jährige Humangenetiker bestens mit den Fachkollegen vernetzt.

Seine Beratung ist vor allem dann gefragt, wenn sich Familien auf eventuelle genetisch bedingte Erkrankungen testen lassen wollen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind hierbei vorwiegend die Syndromdiagnostik, Schwangerschaftsberatung, Kinderwunschberatung und künstliche Befruchtung sowie die Diagnostik erblicher Tumorerkrankungen. Obwohl die meisten seiner Patienten nicht jüdisch sind, wissen insbesondere Rabbiner und jüdische Paare Schell-Apaciks Kompetenz zu schätzen.
Egal ob es sich dabei um bevorstehende Hochzeiten, künstliche Befruchtung oder Schwangerschaftsabbruch handelt – für eine Beratung bei dem renommierten Humangenetiker nehmen Paare aus ganz Deutschland oft weite Wege auf sich. Wer sich schließlich für die oftmals langwierigen Prozeduren, Screenings und Tests entscheidet, fühlt sich bei ihm gut aufgehoben. Denn der Mediziner versteht nicht nur sein Fach, sondern ist auch mit der jüdischen Tradition bestens vertraut.

»Die Genetik ist nicht dazu da, Kinder mit schweren genetischen Schäden zu verhindern, sondern über die möglichen Folgen einer solchen Schwangerschaft zu in-formieren und die Eltern somit optimal vorzubereiten«, betont Schell-Apacik. Wie die Eltern sich letztlich entscheiden, oft in Absprache mit ihrem Rabbiner, bleibe immer individuell und fallbezogen. Denn grundsätzlich gilt, dass es auch im Judentum keine einfachen Lösungen gibt.
So ist zum Beispiel künstliche Befruchtung im Judentum unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Schwierigkeiten ergeben sich dabei nicht aus dem befruchteten Ei in der Petrischale, sondern eher im Hinblick auf Statusfragen. Ist das Kind jüdisch? Ist es ein Kohen? Bei Schwangerschaftsabbrüchen aufgrund genetischer Erkrankungen ist der Handlungsspielraum hingegen schon eher interpretierbar.

Halacha Genau hier kommt für Schell-Apacik, selbst Mitglied der Jüdischen Gemeinde, die Halacha ins Spiel. Zwar lautet das erste Gebot der Tora: »Seid fruchtbar und mehret euch« (1. Buch Moses 1,28), doch mit ihrem Grundprinzip von Pikuach Nefesch liefert sie auch eine konkrete ethische Handlungsanweisung. Das Prinzip, basierend auf dem Gebot »Beachtet meine Gesetze und Rechtsvorschriften; wer sie lebt, wird durch sie leben« (3. Buch Moses 18,5), bedeutet so viel wie Lebensrettung. Prinzipiell gilt, zur Erhaltung des Lebens treten alle anderen Gebote zurück.
»Leid ist sehr subjektiv«, erklärt Schell-Apacik, der sich intensiv mit rabbinischer Literatur und Praxis beschäftigt hat. Mit Vorträgen und Veröffentlichungen zu Themen wie »Genetik im Kontext jüdischer Ethik« oder »Embryonale Stammzellenforschung aus jüdischer Sicht« will Schell-Apacik die aktuelle Diskussion anregen, zum Beispiel zur in Deutschland umstrittenen Präimplantationsdiagnostik (PID), also der Untersuchung des Erbguts bei einem im Reagenzglas entstandenen Embryo. »Die Halacha ist viel weiter als das, was in Deutschland derzeit möglich ist«, findet der Arzt und wünscht sich daher »mehr jüdische Berater in der Ethik-Kommission«.

Erkrankung Denn laut Schell-Apacik tendieren die meisten Rabbiner in ethisch schwierigen Fragen heute eher dazu, abzuwägen, wie groß das Leid ist. Dass sich der Wert eines Lebens dabei nicht an seiner Länge bemisst, einer Behinderung oder ei-
ner tödlichen Erkrankung, ist dabei selbstverständlich. »Doch auch das Paar hat einen Wert«, erläutert Schell-Apacik. Großes Leid bringen dabei aus seiner Sicht vor allem Erkrankungen mit sich, die kaum therapierbar sind. So wie die Tay-Sachs-Erkrankung, eine Stoffwechselstörung, die in jüdischen Bevölkerungsgruppen hundertmal häufiger vorkommt als in nichtjüdischen. »Ziel der Beratung ist es dann, den Eltern bewusst zu machen, dass sie das Kind in den Tod begleiten«, erklärt er.

Der orthodoxe New Yorker Rabbiner Joseph Eckstein hatte bereits vier seiner fünf Kinder durch die Tay-Sachs-Erkrankung verloren, als er Anfang der 70er-Jahre in den USA »Dor Yeshurim« gründete, ein genetisches Screening-Programm innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Getestet wurden damals jüdische Schulkinder auf potenzielle Anlageträgerschaft, bevor sie das heiratsfähige Alter erreichten. Zunächst blieben die Ergebnisse geheim. Rabbiner und Heiratsvermittler erfuhren sie erst dann, wenn sie heiratswilligen Paaren ihren Segen geben sollten. Stellte sich heraus, dass beide Partner Anlageträger für Tay-Sachs waren, kam die Ehe nicht zu-stande. Das rechtzeitige Screening und die Partnerwahl zeigten Wirkung – nach nur 20 Jahren konnten sie die Erkrankungshäufigkeit schließlich um 90 Prozent senken und das Leid der Familien damit entscheidend verringern.

Ein faszinierendes Beispiel an Pragmatismus, findet Schell-Apacik. Er überlegt kurz, dann sagt er: »Aber wenn ich diese Kinder dann sehe, habe ich das Gefühl, Gott nahe zu sein. Diesen göttlichen Funken in ihnen zu erleben, dieses Rätsel der Schöpfung, ist für mich eine echte Bereicherung.«

Weisheit Sollte jedoch die Gesundheit der Mutter gefährdet sein, sind nach jüdischer Auffassung Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung sogar erlaubt. Grundlage hierfür ist nicht nur Pikuach Nefesch, das Retten von Leben, sondern auch die »40-Tage-Regel«. Denn ab wann gilt ein Lebewesen als Nefesch, also als schützenswerte Seele? Schon der Talmud weist darauf hin, dass der Embryo erst 40 Tage nach der Befruchtung, dann schon als Fetus, eine Seele erhält. Davor gilt er als Mayim Be’alma, bloß Wasser. Dass die rabbinische Tradition selbst dieses Wasser als graduell schützenswert ansieht, hängt mit seiner Einstufung als potenziellem Nefesch zu-sammen, der einmal die Schabbatgesetze einhalten soll. Keine einfachen Lösungen also, die die jüdische Sicht anbietet, dafür aber »sehr viel Weisheit«, so Schell-Apacik.

Ganz im Sinne der jüdischen Tradition sind Erhalt von Leben und Verringern von Leid auch für den Humangenetiker, der aus München kommend seit gut drei Jahren in Berlin lebt und arbeitet, der Maßstab ethischen Handels. Klonen kommt für ihn deshalb nicht infrage. Eine Wahl, die er mit dem »Schabbatargument« begründet: »Stammzellenforschung wäre zwar laut Halacha erlaubt. Aber der ethische Grat ist so schmal, dass ich mich bewusst dagegen entscheide. Gott hätte am siebten Tag ja auch weiterschöpfen können. Aber er wollte nicht.«

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