Zeitzeugin

»Ihr könnt es auch schaffen«

»Diesen Moment werde ich niemals vergessen«, sagte Ruth Schwiening mit ruhiger Stimme. »Mit meinem kleinen Koffer stand ich da. Ohne meine Eltern, ohne meine zwei Brüder. Ich kam alleine in ein mir fremdes Land, dessen Sprache ich nicht verstand.«

Ruth Schwiening, geborene Auerbach, wurde mit einem Kindertransport aus Berlin über die Niederlande nach Großbritannien geschickt. Dank der von der britischen Regierung initiierten Rettungsaktion entkam sie, zusammen mit 10.000 anderen zumeist jüdischen Kindern, der nationalsozialistischen Todesmaschinerie. Als sie am 3. Februar 1939 mit dem Schiff in der englischen Hafenstadt Harwich ankam, war sie gerade einmal drei Jahre alt.

exil Zusammen mit ihrem Mann Jürgen Schwiening war die Zeitzeugin Ende August in das Haus der Janusz Korczak Akademie in Berlin-Mitte gekommen, um über ihre Erfahrungen von Exil und Flucht zu sprechen. Über die Vergangenheit zu erzählen, fiel ihr nicht leicht. Sie habe dennoch das Bedürfnis, speziell der jungen Generation ihre Geschichte zu erzählen. »Sie sollen wertschätzen, dass sie heute in einem friedlichen Europa leben«, sagte die 82-Jährige. In ihrer Heimat in der Nähe von Leicester in den englischen Midlands geht die Britin regelmäßig in Schulen, um Kindern und Jugendlichen von ihren Erfahrungen zu berichten.

Ruth Auerbach wurde 1935 in der Nähe von Breslau geboren. Ihr Vater besaß dort einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem er junge Zionisten auf die Auswanderung in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina vorbereitete. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste die Familie das Anwesen verlassen. Die Auerbachs zogen in ein kleines Dorf in der Nähe von Klagenfurt in Österreich.

Doch mit der Annexion Österreichs im März 1938 entschied sich die Familie dazu, zu Verwandten nach Berlin zu fliehen, um von dort weiter nach Großbritannien zu emigrieren. Der Vater konnte Frau und Kinder jedoch nicht begleiten – in der Pogromnacht vom 9. November 1938 kam die Gestapo in das Haus der Auerbachs und verschleppte den Vater ins Gefängnis von Klagenfurt. Später brachte man ihn in das Konzentrationslager Dachau. »Sind Sie der Jude Auerbach? Nehmen Sie Ihren Mantel und kommen Sie sofort mit. Obwohl ich noch so klein war, kann ich mich an die Nacht, in der sie meinen Vater holten, erinnern«, sagte Schwiening.

pflegefamilie Wegen der damaligen restriktiven Einwanderungspolitik Großbritanniens gelang es Ruths Mutter zunächst nicht, für sich und die drei Kinder individuelle Visa zu bekommen. Schweren Herzens und nicht wissend, ob sie sich jemals wiedersehen würden, schickte die Mutter Ruth als einziges der Kinder mit einem Kindertransport vom Bahnhof Friedrichstraße in Richtung Großbritannien.

»Ich habe oft darüber nachgedacht, warum meine Mutter gerade mich und nicht einen meiner Brüder ausgewählt hat«, sagte Schwiening. Wahrscheinlich habe es daran gelegen, dass Mädchen es leichter hatten, in England eine Pflegefamilie zu finden, meint die Britin. Ein Jahr lang lebte sie in einer Familie in London, die sie als »überaus liebevoll« beschreibt. Die meisten der durch die Kindertransporte geretteten Kinder haben ihre Eltern nie wiedergesehen.

Ruths Familie jedoch hatte großes Glück: Dank des engagierten britischen Botschaftsangestellten in Berlin, Frank Foley, der sich über die Direktiven seiner Regierung hinwegsetzte und versuchte, so viele Juden wie möglich mittels Visa zu retten, konnte die Familie im Frühjahr 1939 nach Großbritannien nachkommen.

arbeitsvisum Mithilfe eines speziellen Arbeitsvisums gelang es dem Botschaftsangestellten sogar, Ruths Vater aus dem KZ Dachau zu befreien und ihn zu seinen Angehörigen nach Großbritannien zu schicken. Die Großeltern, Tanten und Onkel hingegen wurden in der Schoa ermordet.

Schwiening erinnert sich noch gut an den Moment, als im Haus der englischen Pflegefamilie plötzlich ihre leibliche Mutter vor ihr stand. »Ich habe sie nicht erkannt«, bekennt die alte Dame. Und fügt hinzu: »Für meine Mutter muss diese Begegnung sehr schmerzhaft gewesen sein.«

Mit ihrem deutschen Mann setzt sich die Fremdsprachenlehrerin und leidenschaftliche Künstlerin heute für nach Großbritannien geflüchtete Menschen ein. »Ich sage den Flüchtlingen immer: Unter anderen historischen Umständen war ich einst eine von euch. Heute geht es mir sehr gut. Ihr könnt es auch schaffen.«

Berlin-Charlottenburg

Verborgene Schätze im Innenhof

Gemeindemitglied Joachim Jacobs führt durch den wohl jüdischsten Bezirk der Hauptstadt

von Sören Kittel  01.12.2025

Haifa

Nach abgesagter Auktion: Holocaust-Zeugnisse jetzt in Israel

Die geplante Versteigerung von Holocaust-Zeugnissen in Deutschland hatte für große Empörung gesorgt. Nun wurden viele der Objekte nach Israel gebracht und sollen dort in einem Museum gezeigt werden

von Sara Lemel  01.12.2025

Dokumentation

»Sie sind nicht alleine!«

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer hielt bei der Ratsversammlung des Zentralrats der Juden die traditionelle Gastrede

von Wolfram Weimer  30.11.2025

Meinung

Wir Jungen müssen die Gemeinden stärker mitgestalten

Jüdische Studierende sind vom wachsenden Antisemitismus besonders betroffen. Gleichzeitig sind junge Juden kaum in den Gemeindevertretungen repräsentiert. Das muss sich ändern

von Ron Dekel  30.11.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Porträt der Woche

Familie, Glaube, Neubeginn

Edouard Joukov stammt aus Russland und fand seinen Platz in der Ulmer Gemeinde

von Brigitte Jähnigen  28.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  28.11.2025

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 27. November bis zum 3. Dezember

 27.11.2025