Porträt der Woche

»Ich teile meine Tradition«

»Für den deutschen Pass müsste ich den israelischen aufgeben – das will ich nicht«: Shlomit Lehavi (54) in ihrem Studio in Berlin Foto: Mara Noomi Adler

Porträt der Woche

»Ich teile meine Tradition«

Shlomit Lehavi ist Künstlerin und beschenkt zu Chanukka gern ihre Freunde

von Till Schmidt  19.12.2019 11:01 Uhr

Berlin war für mich Liebe auf den ersten Blick. Zugegeben, davor, Mitte der 90er-Jahre, war ich schon einmal kurz hier. Doch 2012 hat es mir nicht nur gut gefallen, es hat mich regelrecht umgehauen. Aus der New Yorker Kunstszene kannte ich einen ganz speziellen Vibe: Die Leute waren dort sehr blasiert und abgeklärt. In Berlin hingegen war das anders. Ich hatte nicht erwartet, so viel und so angeregt über Kunst zu reden und zu diskutieren – während der wunderbar lang dauernden Vernissagen, auf Pressekonferenzen und in Interviews.

Eine der Interviewerinnen damals war Sharon Adler. Für ihr feministisches Online-Magazin AVIVA hatte ich von New York aus über einen längeren Zeitraum Fragen beantwortet. Es ging um meine Kunst, meine Biografie und die anstehende Ausstellung Fantastic Time Machines im Art Laboratory Berlin. Zum ersten Mal gesehen habe ich Sharon dann beim Pressetermin zu meiner Ausstellung. Inzwischen sind wir verheiratet. Wir leben heute zusammen in Berlin-Kreuzberg.

Schon als Kind habe ich es geliebt, Dinge zu basteln.

Geboren wurde ich 1965 in Tel Aviv. Kunst gehörte schon immer zu meinem Lebensumfeld. Der Onkel meiner Mutter war Arie Aroch, ein einflussreicher israelischer Maler, und auch viele Freunde meiner Eltern arbeiteten als Künstler.

Schon früh habe ich es geliebt, Dinge zu basteln und zu konstruieren, aber erst mit Anfang 20 fiel mir auf: Was ich mache, ist eigentlich Kunst. Von einem Design-Studiengang bin ich später dann zur Kunsthochschule gewechselt.

Anfangs habe ich hauptsächlich gemalt und gezeichnet. Heute arbeite ich multimedial, sehr häufig mit Installationen und Video. Künstlerin zu sein, ist ein wichtiger Teil meiner Identität.

BLICKWINKEL Eine meiner Arbeiten heißt »Two Sides to the River«, eine Fünf-Kanal-Video-Installation. Ich habe sie 2011 fertiggestellt, als ich noch in Brooklyn lebte. Eines Tages fragte ich mich, wie der East River wohl von Manhattan aus aussieht, und fing an, zusammen mit einer Freundin, von beiden Seiten zu filmen: derselbe Fluss, zur selben Zeit, am selben Tag. Die einzigen Hinweise auf die Simultanität der Aufnahme sind die sich bewegenden Boote und der Rhythmus des Wassers – sonst unterscheidet sich das Gezeigte stark: eine sonnige und fröhliche Atmosphäre auf der einen Seite, ein trostloses und wolkiges Setting auf der anderen.

Die Vielfalt der möglichen Blickwinkel auf die Welt und die Bedeutung von Subjektivität sind Themen, die mich seit Langem künstlerisch, aber auch politisch interessieren.

In unserem alltäglichen Leben sind wir mit so vielen unterschiedlichen Menschen konfrontiert, dass wir eigentlich zwangsläufig mit verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Hintergründen in Berührung kommen. Und wenn ich darüber nachdenke, was es bedeutet, israelisch zu sein, kann ich darauf natürlich keine allgemeingültige Antwort geben. Stattdessen fällt mir eine Anekdote ein.

Anstatt zur Schule zu gehen, saß ich früher gern mit meiner Mutter im Café Mersand in der Nähe des Strandes.

Als ich 20 Jahre alt war, wollte ich eine Kreditkarte beantragen. Der Bankangestellte fragte mich nach meinem Beruf, und ich antwortete: Künstlerin. Das sei doch kein Beruf, entgegnete er, woraufhin ich ihn fragte, welche Berufe ihm denn einfallen. »Rechtsanwalt und Steuerberater«, antwortete er. »Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen«, fuhr ich fort. »Wenn Sie ins Ausland reisen – wohin gehen Sie dann lieber, ins Museum oder ins Gericht?« – »Ins Museum natürlich.« – »Schauen Sie, ich bin das Museum.« Am Ende stellte er mir die Karte aus.

STRAND Die Straße meiner Kindheit befindet sich direkt im Zentrum, in der Nähe der Frishman-Straße und des Kameri-Theaters. Diese Gegend war damals das Zentrum meiner persönlichen, eigenen Welt. In der Ecke rund um die Frishman fühle ich mich noch immer sehr zu Hause. Als Kind liebte ich es, anstatt zur Schule zu gehen, mit meiner Mutter im Café Mersand in der Nähe des Strandes herumzusitzen. Ohnehin ist der Strand in Tel Aviv für mich ein besonderer Ort, mit einer ganz eigenen, unvergleichlichen Atmosphäre.

Früher hat sich meine Familie mit ihren Freunden und deren Familien am Freitag zum Mittagessen im Avatichim in der Nähe vom Frishman-Strand getroffen. Das Lokal ist inzwischen geschlossen. Heute befindet sich dort eine Parkgarage.

Als ich vor Kurzem mit meiner Frau und ihrer Tochter wieder in Tel Aviv war, haben wir auch viel Zeit am Strand verbracht. Das war großartig! Nur – um im Bild meiner Installation zum New York River zu bleiben: Was und wo ist von dort aus gesehen eigentlich die andere Seite?

IDENTITÄTEN Apropos Perspektivwechsel: In meiner Arbeit »Return/Partake« habe ich gefilmt, wie ich selbst die Figur der Prozessanwältin Patty Hewes, gespielt von der Schauspielerin Glenn Close, aus der US-Anwaltsserie Damages performt und diesen Prozess reflektiert habe.

Patty Hewes ist widersprüchlich und hat mich daher schnell in ihren Bann gezogen – zunächst als Zuschauerin, später in Form des Impulses, in ihre Rolle zu schlüpfen.

Was ich in meiner Kunst erforsche, ist die Veränderbarkeit und das Fließende von Identitäten.

Die Installation war 2015 in der alpha nova & galerie futura in Berlin zu sehen. Was ich darin erforsche, ist die Veränderbarkeit und das Fließende von Identitäten. Insbesondere die Widersprüchlichkeit von Patty Hewes hat mich fasziniert.

Sie ist hart und verletzlich zugleich – das bringt herkömmliche Geschlechtervorstellungen durcheinander. Selbstbestimmte Charaktere gelten in der Regel als »unweiblich«, abhängige Persönlichkeiten hingegen als »weiblich«.

Webinstallation Auch in »IMNOW« geht es um Identität und ihre Wandelbarkeit, allerdings auf eine andere Weise. Die Arbeit ist eine partizipative Webinstallation, die sich mit der Frage nach dem öffentlichen und privaten sowie dem physischen und virtuellen Raum befasst.

Meine Installation besteht aus mehreren kreisrunden, lebensgroßen Bildschirmen, auf die jene Informationen projiziert werden, welche die Besucher der Installation auf Twitter, Facebook, Skype oder Flickr hinzugefügt haben. In diesem öffentlich inszenierten physischen Netzwerk ist dann ihr bewusst hinterlassener digitaler Fußabdruck sichtbar. Ein weiterer Aspekt ist die spezifische Sprache, die wir auf diesen Plattformen verwenden.

FEIERTAGE In vielen Momenten singe ich traditionelle jüdische Lieder wie »Avinu Malkeinu« oder »Mi ha’ish« vor mich hin. Dabei geht es mir weniger um den Text. Allein die Melodien haben für mich eine ganz eigene Kraft und stehen für eine wichtige Dimension meines Jüdischseins: die Tradition. Darunter verstehe ich nicht das strikte Befolgen von Regeln oder Bräuchen oder gar Religion, sondern ein bestimmtes Verortetsein in der Welt.

Dieses Verortetsein drückt sich zum Beispiel über jüdische Lieder und Musik aus. Oder, in gewissem Maß, auch über Feiertage. Die meisten nehmen wir als willkommene Gelegenheit, um jüdische wie nichtjüdische Freunde einzuladen. Bei diesen Festen erzählen wir dann immer auch etwas zum Hintergrund des jeweiligen Feiertages.

Unter Tradition verstehe ich nicht das strikte Befolgen von Regeln oder Bräuchen, sondern ein bestimmtes Verortetsein in der Welt.

An Chanukka habe ich die letzten Male für jeden unserer Gäste Geschenke zusammengestellt. Um die vielen Dreidel zu bekommen, habe ich den Shop des Jüdischen Museums nahezu leerkaufen müssen. Jeder unserer Gäste brachte eine eigene Chanukkia mit, und in diesem eindrucksvollen Licht haben wir zusammen Lieder wie »Maoz Tzur«, »Banu Choshech Legaresh« oder »Mi Yemalel Gvurut Israel« als Kanon zum Besten gegeben.

Gastfreundschaft zu pflegen sowie eigene Traditionen mit allen Freunden zu teilen, das ist mir wirklich sehr wichtig. An Jom Kippur hingegen gehen wir nicht ins Res­taurant und arbeiten auch nicht. Mehr allerdings nicht. Einkehr und Besinnung – das habe ich doch schon das ganze Jahr!

EINBÜRGERUNGSTEST Da ich in Berlin lebe, möchte ich hier Rechte und Pflichten haben. Um in Deutschland wählen gehen zu können, müsste ich aber einen deutschen Pass besitzen. Den Einbürgerungstest habe ich kürzlich mit Bestnote bestanden, und einige deutsche Freundinnen und Freunde konnte ich damit aufziehen, dass ich ihnen Fragen daraus gestellt habe, die sie selbst gar nicht beantworten konnten. Für die deutsche Staatsangehörigkeit müsste ich allerdings meine israelische aufgeben. Doch das möchte ich auf keinen Fall.

Ich fühle mich in Berlin sehr wohl und genieße es, die Stadt immer wieder aufs Neue zu erkunden. Doch Israel ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, von dem ich stark geprägt wurde. Dazu gehört auch mein schwarzer Humor. Der ist typisch israelisch. In der säkularen Variante.

Aufgezeichnet von Till Schmidt

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