Porträt der Woche

»Ich brauche Netzwerke«

Svetlana Agronik ist Biochemikerin und leitet das Berliner Integrationsprojekt »Impuls«

von Christine Schmitt  31.07.2022 08:28 Uhr

»In Berlin fühle ich mich sicher und wohl. Dennoch ist Deutschland keine zweite Heimat für mich geworden«: Svetlana Agronik (68) Foto: Rolf Walter

Svetlana Agronik ist Biochemikerin und leitet das Berliner Integrationsprojekt »Impuls«

von Christine Schmitt  31.07.2022 08:28 Uhr

Ich bin Jüdin – mit diesem Wissen bin ich in Moskau aufgewachsen. Im Klassenbuch der Schule stand bei meinem Namen als Nationalität »Jude«. So wusste es jeder, und ich wurde von Gleichaltrigen oft beschimpft. Meine Eltern gaben mir mit auf den Weg, dass ich gut in der Schule sein sollte, besser als meine Klassenkameraden. In der damaligen Sowjetunion gab es eine stille Regel, nach der gerade einmal fünf Prozent Juden zu einem Studium zugelassen wurden. Als mittelmäßige Schülerin hätte ich kaum Chancen auf eine akademische Ausbildung und einen guten Arbeitsplatz gehabt.

Meine familiären Wurzeln lassen sich bis in die Zarenzeit zurückverfolgen. Einer meiner Urgroßväter war Rabbiner in einem Schtetl. Sein Sohn, mein Opa, konnte nach der Oktoberrevolution mit seiner Frau nach Moskau umziehen, wo er mit der Arbeit in einem Lebensmittelgeschäft die Familie ernährte.

ururgroßvater Der Ururgroßvater meiner Mutter hingegen durfte nach 25 Jahren Armeezeit unter Zar Nikolai I. endlich in eine große Stadt ziehen, er ging nach Rostow am Don. Sein Sohn, mein Uropa, wurde ein sehr geschätzter und bekannter Arzt. Er half den Kranken während einer Epidemie, infizierte sich und starb. Seine Beliebtheit in der Stadt war so groß, dass meine Uroma von den Pogromen verschont blieb.

Als Rostow am Don von den Nazis besetzt wurde, flohen meine Uroma, meine Oma und meine Mutter nach Asien, nach Usbekistan. Mein Vater gelangte mit seiner Mischpoke nach Sibirien, ging dort zur Abendschule und arbeitete parallel ab seinem 14. Lebensjahr. Später wurden beide Ärzte, sie sind mittlerweile über 90 Jahre alt und leben wie ich in Berlin.

Derzeit organisieren wir Stadtführungen speziell für Geflüchtete aus der Ukraine.

Nach der Schule studierte ich, zunächst in einer Abendschule, später dann in einem Direktstudium. Ich hatte mich für Biochemie entschieden und arbeitete an einem Institut für Lebensmitteltechnologie. Eigentlich hatte ich mir immer gewünscht, mich beruflich in Richtung Theaterwissenschaft oder Journalismus zu orientieren, aber als Jüdin hatte ich kaum Chancen.

Nach dem Studium kam ich in das Institut für Molekularbiologie und Genetik. Damals schrieb ich wissenschaftliche Artikel, bis ich 1990 mit einer Arbeit über Weizenproteine promoviert wurde. Immer schon habe ich viel und gerne gearbeitet – und daran hat sich bis heute nichts geändert.

iwrit Damals war meine Tochter elf Jahre alt, und ich war alleinerziehend. Ende der 80er-Jahre war die politische Situation in der Sowjetunion angespannt, hinzu kam eine antisemitische Stimmung. Wir erlebten, dass immer mehr Freunde und Verwandte das Land verließen. Vor allem traf es meine Tochter schwer, denn eine ihrer Freundinnen ging mit ihrer Familie in die USA, die andere nach Deutschland. Sie fühlte sich allein.

Erschwerend kam hinzu, dass meine Mutter am Herzen erkrankte. So fing ich in kleineren Zirkeln an, Iwrit zu lernen, um mit meinem damaligen Freund samt Familie nach Israel zu emigrieren. Es ergab sich zufällig, dass mir ein deutscher Kollege eine Einladung nach Berlin schickte, und kurzfristig bekamen meine Tochter und ich ein Touristenvisum.

Während Gorbatschows Zeit war mir vieles klar geworden. Ich spürte mich betrogen: Alles, was ich gelernt hatte, war falsch. Mit diesem innerlichen Riss konnte ich nicht mehr in Moskau leben, ich wollte nur noch raus – Richtung Demokratie. Schließlich saßen wir im Zug. Als ich in Berlin in der Aufnahmestelle in der Marienfelder Allee die Formalitäten erledigen wollte, erschrak ich, denn die Korridore waren voll mit Wartenden. Meine Tochter und ich waren bereits um sieben Uhr morgens gekommen. Doch wir hatten Glück, eine Mitarbeiterin sah uns und winkte uns zu sich.

Es war für mich ein mutiger Schritt, denn ich konnte kein Deutsch und wusste nicht, wie es mit uns weitergehen sollte. Zuvor hatten mich meine Eltern unterstützt, doch plötzlich musste ich alles allein entscheiden. Ich war 37 Jahre alt und wusste, dass ich richtig Fuß fassen wollte – so schnell wie möglich Deutsch lernen und eine gute Schule für meine Tochter finden. Ich schrieb mich zunächst bei der Volkshochschule Berlin für einen Sprachkurs ein, danach im Goethe-Institut.

hoffnung In dieser Zeit habe ich gelernt, dass man in einer solchen Situation keine großen Ansprüche haben darf, aber die Hoffnung behalten und unbedingt immer freundlich und nett agieren sollte. Ich wollte in den Westen Berlins, zuerst waren wir im Ostteil in einem Wohnheim untergebracht, doch dann kamen wir nach Marienfelde, hatten ein Zimmer und eine Gemeinschaftsküche. Meine Eltern, die als Opfer der Nazis anerkannt wurden und somit eine Rente bekamen, konnten nachkommen. Das ist nun 31 Jahre her.

Ich ließ mir meinen Lebensmut nicht nehmen und wurde aktiv, schaffte es, eine Zweizimmerwohnung in Lichtenrade zu mieten, in der ich 20 Jahre lang blieb. Meine erste Arbeitsstelle bekam ich beim Jüdischen Kulturverein, danach wurde ich als Übersetzerin bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin für die Gemeindezeitung tätig. Ich übersetzte Texte aus dem Deutschen ins Russische.

Mein Ziel ist es, alles zu tun, damit sich Mitglieder und Gäste der Jüdischen Gemeinde bei uns wohlfühlen.

Während der zwei Jahre, in denen ich im Jüdischen Kulturverein agierte, hatte ich die Idee, ein Integrationsprojekt zu entwickeln. Es waren so viele Juden aus Russland nach Berlin emigriert, die ein entsprechendes Angebot brauchten. Und dank der Gemeinde konnte ich dieses Projekt umsetzen. Mein Ziel ist es, alles zu tun, damit sich Mitglieder und Gäste der Jüdischen Gemeinde bei uns wohlfühlen – wie zu Hause. Alle Angebote von »Impuls« widmen sich dem Thema »Jüdische Geschichte und Kultur kennenlernen«.

Um Einsamkeit zu bekämpfen und ehrenamtliche Beschäftigungen für Kreative zu entwickeln, organisiere und betreue ich verschiedene Arbeitsgruppen. Am erfolgreichsten sind die Theatergruppen für Erwachsene und jüngere Leute. Wir bereiten gerade Musikprogramme für unser Seniorenzentrum und den Seniorenklub Massoret vor. Konzerte, Film- und Buchvorstellungen, Stadtführungen, Wanderungen und einen Kurs »Jüdische Tänze« bieten wir jetzt auf Deutsch an, teilweise gibt es auch Übersetzungen ins Russische. Das funktioniert super.

Corona Veranstaltungen von »Impuls« finden in der Fasanenstraße und in der Oranienburger Straße statt, wo ich auch ein kleines Büro habe. Im Dezember wird mein »Baby« 25 Jahre alt, worauf ich sehr stolz bin. Damals fing ich mit Führungen zu jüdischen Orten, Konzerten und Lesungen an – ausschließlich auf Russisch.

Mittlerweile bin ich sehr gut mit jüdischen Künstlern, Musikern und Schriftstellern vernetzt, die gerne aus der ganzen Welt zu uns kommen. Etwa 150 Veranstaltungen stellen wir im Jahr auf die Beine. Vor der Pandemie besuchten uns rund 7000 Interessierte im Jahr, doch Corona bremste uns aus. Im zweiten Jahr bekam Impuls aber wieder neuen Schwung. Im Frühjahr 2021 haben wir alle Veranstaltungen des Projektes (Kurse, Stadtführungen, Vorträge, Lesungen und Konzerte) online gestellt.

Vor elf Jahren habe ich meine Zweizimmerwohnung aufgegeben, um in die Nähe meiner Tochter zu ziehen.

Schon der erste Online-Kochkurs zu Purim und das Programm über Traditionen der Handwerkskunst bucharischer Juden haben uns öffentliches Interesse gebracht, erfolgreich war auch die Vortragsreihe »Juden in der Kunstgeschichte«. Und seit Februar arbeite ich wieder live und konnte schon viele neue Referenten, Künstler und Autoren aus der ganzen Welt gewinnen.

bürokratie Veranstaltungen sind das eine. Selbstverständlich sind sie eine Bereicherung. Aber sie müssen gut vorbereitet sein – und natürlich muss ich die Künstler erst einmal finden und die Events bewerben. Für mich heißt das, dass ich viel am Computer arbeite, um mich um die bürokratischen Angelegenheiten zu kümmern. Worüber ich mich sehr freue, ist, dass meine Arbeit und mein Engagement gesehen und gewürdigt werden. Ich kann selbstständig im Rahmen des Budgets planen. Besser geht es nicht.

Doch ich weiß auch, dass ich meine Netzwerke ebenso für ukrainische Flüchtlinge brauche. Derzeit organisiert Impuls Stadtführungen speziell für Geflüchtete aus der Ukraine und hilft ihnen so, sich hier wohlzufühlen.

Vor elf Jahren habe ich meine Zweizimmerwohnung aufgegeben, um in die Nähe meiner Tochter zu ziehen, die Mutter wurde. Mittlerweile sind meine Enkel schon groß, aber wir sehen uns häufig. In meinem Wohnzimmer hängen Aquarelle, die mein Großvater gemalt hat und auf denen er die Landschaft Russlands festgehalten hat.

In Berlin fühle ich mich sicher und wohl. Dennoch ist Deutschland seiner Vergangenheit wegen keine zweite Heimat für mich geworden.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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