Porträt der Woche

»Ich bin für andere da«

Möchte die Zeit im Hier und Jetzt nutzen: Shterna Wolff (45) aus Hannover Foto: Gregor Matthias Zielke

Porträt der Woche

»Ich bin für andere da«

Shterna Wolff leitet das Jugendzentrum in Hannover und arbeitet rund um die Uhr

von Christine Schmitt  28.01.2023 17:42 Uhr

Das Wort »nein« kommt in meinem Wortschatz nicht vor, nur die zwei Buchstaben »j« und »a« – »ja«. Ich bin 24 Stunden im Einsatz; wenn mich jemand braucht, bin ich da und helfe. Mein Leben ist voll und reich, denn meine Aufgabe, ein jüdisches Zentrum zu betreuen, ist meine Berufung.

Ich lebe mit den Menschen, weshalb ich auch kein Privatleben mehr habe. Aber ich brauche auch keines. Selbst um zwei Uhr nachts gehe ich ans Handy, wenn es klingelt. Allerdings muss ich sagen, dass das schönste Geschenk für die Juden der Schabbat ist, wenn Handy und Computer aus bleiben.

Meistens stehe ich morgens um sechs Uhr auf, bringe meine Kinder in Schwung und arbeite dann. Jemand möchte eine Mesusa aufhängen – also gehe ich hin. Ein anderer braucht einen Arzt, kann aber nicht richtig Deutsch – ich mache mich auf den Weg. Ich besuche Kranke in den Kliniken. Dazu kommen Meetings. Früher habe ich nicht verstanden, was mein Mann Benjamin, der vor knapp drei Jahren gestorben ist, als Rabbiner so macht. Da habe ich ihn oft gefragt, warum er immer so »busy« ist. Nun weiß ich es.

ruhestunde Ich versuche, immer mehr zu arbeiten. Eine Ruhestunde gibt es bei mir nicht. Ich kann nicht, denn dann fange ich zu denken an und bekomme Depressionen. Seit dem Tod meines Mannes bin ich allein mit meinen Kindern. Aber ich bekomme viel Unterstützung.

Jüngst habe ich einen alten, stillgelegten Bahnhof in Hannover gekauft, um ein Jüdisches Zentrum aufzubauen. Nun habe ich einen Haufen Schulden, aber immerhin konnte kürzlich das »Benjamin-Haus« eröffnet werden, das sich im Gebäude des früheren Bismarck-Bahnhofs befindet.

In der Bahnhofshalle ist jetzt die Synagoge, auch eine Küche für koscheres Essen und Räume für Treffen und Veranstaltungen sind eingerichtet.
Das Haus will offen sein, auch für Menschen, die das jüdische Leben besser kennenlernen wollen. Gerade junge Menschen sollen hier die Eigenarten der jüdischen Kultur erleben können.

großfamilie Meine Geschwister leben über die ganze Welt verstreut: Ich habe Brüder in Alaska, Frankreich, den USA, der Ukraine und in China. Alle amtieren als Rabbiner. Wir sind 17 Geschwister, ich kam als Nummer 14 auf die Welt. Ich hatte eine unglaubliche Kindheit in Bnei Brak in Israel und war – wie meine 16 Brüder und Schwestern – sehr zufrieden, obwohl wir nur ein kleines Haus hatten und wir uns zu fünft ein Zimmer teilten. Ich denke, es lag an meinen Eltern, dass wir so glücklich aufwuchsen, und an meinen älteren Geschwistern, die uns vorlebten, zufrieden zu sein.

Meine 16 Geschwister leben über die ganze Welt verstreut.

Meine Eltern steckten ihre ganze Energie in uns Kinder. Und obwohl wir so viele sind, hat jeder gefühlt, dass er einzigartig ist. Fünf verschiedene Speisen stellte meine Mutter auf den Tisch, wenn wir aus der Schule kamen, sodass für jeden etwas Leckeres dabei war. Damals dachte ich, dass ich auch so eine große Familie und genauso ein Familienleben haben möchte.

Nun habe ich »nur« acht Kinder. Meine älteste Tochter ist mittlerweile auch schon Mutter geworden – sie lebt zehn Minuten von mir entfernt. Da denke ich mir, wenn sie in meine Nähe zurückkommt, kann ich nicht viel falsch gemacht haben. Das macht mich glücklich.

lieblingskind Meiner Mutter versuche ich bei meinen Besuchen in Israel zu entlocken, welchem Kind sie sich am nächsten fühlt. Bis heute hat sie kein Lieblingskind – jedes Kind sei ihr Liebling. Und das ist einer der Ecksteine des erfolgreichen Elternseins.

Als mein Mann vor knapp drei Jahren starb, spürte ich, wie wichtig Familie ist. Meine war unglaublich, meine Schwestern waren immer da und ließen mich nie allein. Wenn ich einen meiner Brüder anrufe, lässt er alles stehen und liegen, um rasch zurückzurufen. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens, damit zurechtzukommen, dass mein Mann nicht mehr da ist, sondern uns anders begleitet. Ich fühlte mich amputiert, und er fehlte und fehlt mir. Unsere jüngste Tochter war gerade einmal vier Jahre alt. Sie hatte keine Chance, mit ihm viel Zeit zu verbringen, was mir besonders leidtut.

Nach dem Abitur habe ich Pädagogik studiert. Und dann lernte ich meinen späteren Mann kennen – über meine Schwester, die damals in Odessa lebte, mich einlud und sagte, dass er der Passende für mich sein könnte. Damit hatte sie recht. Wir trafen uns ein paar Mal und spürten die starke Verbindung. Deshalb ist der Verlust so groß für mich, denn wir verstanden uns ohne viele Worte. Drei Monate nach dem Kennenlernen haben wir in Israel geheiratet. Es waren etwa 1000 Gäste da, nicht alle hatte ich zuvor schon einmal gesehen.

odessa Wir blieben fünf Jahre in Odessa, um dort ein jüdisches Zentrum aufzubauen. Ich konnte zu Beginn kein Wort Russisch, lernte es aber rasch. Mit Fotos von Gegenständen paukte ich die Vokabeln, mit Händen und Füßen verständigte ich mich. Aber es ging voran. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, weil ich 24 Stunden lang nur Russisch hörte. Wir wollten eine Kita und eine Grundschule auf die Beine stellen, was wir schließlich schafften.

Dann erhielten wir vor 17 Jahren das Angebot, nach Hannover zu ziehen, um dort ein jüdisches Zentrum mit aufzubauen. Okay, dachte ich, in ein paar Wochen gibt es eine Kita, in ein paar Monaten eine Grundschule – Letztere gibt es bis heute nicht. Immerhin aber eine Sonntagsschule. Und ich darf das Jugendzentrum leiten. Eigentlich habe ich keine Zeit, aber es ist mir wichtig, mit den Kids und Jugendlichen zusammenzuarbeiten und das Judentum an sie weiterzugeben, denn sie sind die Zukunft.

Für mich war es eine Umstellung, mit manchen Eigenschaften der Deutschen zurechtzukommen.

Auf mein Deutsch bin ich nicht so richtig stolz. Ich lebe nun schon so viele Jahre hier, da finde ich, es könnte besser sein. Für mich war es eine Umstellung, mit manchen Eigenschaften der Deutschen zurechtzukommen, schließlich unterscheiden sie sich stark von den israelischen. Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt und kann jetzt auch nicht anders.

Manchmal denke ich, dass ich nicht alt werden möchte. Ich sehe meine Mutter vor mir, die heute 84 Jahre alt ist. In der Seele ist sie noch jung und dynamisch, aber der Körper will nicht immer mitmachen. Früher hatte sie überhaupt keine Zeit, so etwas wie Hobbys aufzubauen. Nun hat sie mehr als 120 Enkelkinder, und jedes von ihnen ist ihr liebstes Hobby.

Ich habe auch keine Sekunde für Freizeitbeschäftigungen übrig und brauche den Trubel um mich herum. Aber ich lebe heute und lehne es ab, mir Gedanken zu machen, was in 30 Jahren sein könnte. Ich möchte die Zeit im Hier und Jetzt nutzen. Deshalb sage ich mit einem Schmunzeln auch gern zu meinen Kindern, dass sie – heute! – ihre Zimmer aufräumen sollen.

Charity Nun habe ich schon neue Ideen im Kopf. Seitdem wir das »Haus Benjamin« eröffnet haben, organisiere ich jedes Jahr eine Charity-Veranstaltung, um Geld für die Weiterentwicklung des Gebäudes zu akquirieren. Bisher sind nur Privatspenden eingegangen. Übrigens: Es ist die schwierigste Aufgabe, Geldspenden zu sammeln.

Außerdem plane ich einen Spielplatz. Er soll »Gan Bereschit« heißen und ein Treffpunkt für Kinder und Eltern, Juden und Nichtjuden werden. Die sieben Tage der Tora sollen in sieben Ecken des Platzes thematisch bespielt werden. Und sieben Tage benötige ich jede Woche. Denn mein Ziel ist es letztlich, mehr Licht in diese Welt zu bringen und damit die Dunkelheit zu vertreiben.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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