Musical

»Ich bin ein Morgenpoet«

Wenn die Kinder auf der Bühne stehen und seine Lieder singen, ist er glücklich. Ilja Averbukh merkt, dass seine Texte gut ankommen. Bevor er sich ans Werk machte, die Songtexte zu schreiben, hatte Averbukh das Buch Alice im Wunderland gründlich studiert. Dann ging er daran, mit einem Finger seine Wörter in den Computer zu schreiben. Ilja Averbukh kann nur mit einem Finger arbeiten, die anderen neun gehorchen ihm nicht, ebenso wenig die Beine und Arme. »Ich bin spastisch gelähmt, was für mich keiner Rede wert ist, denn ich achte lieber darauf, was ich kann«, sagt Averbukh.

Vor allem achtet er an diesem Sommernachmittag bei der Aufführung des Musicals in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf auf den Ausdruck in den Gesichtern der anderen. »Die Kinder sehen so fröhlich aus und schauspielern sehr gut«, sagt er. Und man hört seiner Stimme an, dass es ihn immer wieder freut.

Kultur-akademie
Mehrere Monate lang haben 60 Kinder und Jugendliche der Jüdischen Kultur-Akademie intensiv an der Aufführung von Alice im Wunderland gearbeitet, die Kostüme selbst hergestellt, das Bühnenbild gebaut, Texte gelernt, Lieder einstudiert und schließlich bei der Aufführung die Besucher in eine Traumwelt entführt, in der die Uhren anders ticken, Ketchup und Mayo lustig rappen und die Pizzaprinzessin das Wunderland zum Zittern bringt.

»Es war eine wunderschöne, gelungene Aufführung. Nun bräuchten wir noch die Möglichkeit einer zweiten«, wünscht sich Inna Umanska, Leiterin und Initiatorin der Jüdischen Kultur-Akademie. Sie hofft, dass sie das Musical noch in anderen jüdischen Gemeinden aufführen kann.

Die Kultur-Akademie der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ist eine außerschulische jüdische Einrichtung mit einem kulturpädagogischen Angebot für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich laufend weiterentwickelt, erklärt Umanska. Sie sei als neuartiges innovatives Projekt entstanden, unter dessen Dach zahlreiche kulturelle Aktivitäten in der Düsseldorfer Gemeinde vereint werden. Umanska hofft darüber hinaus, dass auch die Inklusion behinderter Menschen eine Selbstverständlichkeit wird.

Im vergangenen Sommer hatten die Kinder das Musical König der Löwen auf die Bühne gebracht – damals war Ilja Averbukh unter den Zuschauern. »Ich bin ein großer Musical-Fan«, sagt er. Er war bereits in Hamburg, um dort einige Aufführungen zu hören. Ebenso besucht er klassische Konzerte in Düsseldorf. »Ich möchte einfach nur der Musik lauschen und mich dabei entspannen.« Eigentlich mag er alles, aber besonders die Werke von Schostakowitsch und Tschaikowsky.

Schreiben »Meine Oma hat mir das Lesen beigebracht, wofür ich ihr sehr dankbar bin«, sagt er. Mit sechs Jahren hat er bereits seine ersten Gedichte verfasst, heute schreibt er gern Rätselreime und Kalauer, die er Zeitschriften zur Veröffentlichung zur Verfügung stellt. Und eine Spezialität von ihm: Kochanleitungen in Versform. Zu den jüdischen Feiertagen schreibt er für die Gemeinde ebenfalls Gedichte.

Geboren wurde Ilja in der Ukraine. »Aber meine Eltern sahen keine Möglichkeit, dort weiter mit mir zu leben.« Wie es dazu kam, dass er eine Zerebralparese – so lautet der medizinische Begriff für sein Krankheitsbild – erlitt, wisse man nicht. Die Familie entschied sich, nach Düsseldorf zu ziehen, dort besuchte er erst eine Spielgruppe, dann einen Kindergarten und schließlich die Schule. Nach seinem Hauptschulabschluss wechselte er in ein Internat nach Aachen und ins Sauerland, um dort die Berufsschule zu absolvieren. In Düsseldorf zurück, begann er, in der Werkstatt für Behinderte zu arbeiten.

Sein Alltag ist mitunter etwas anstrengend. Gegen sechs Uhr wird er wach, bittet seine Mutter, ihn an den Computer zu bringen, und dann legt er los. »Ich bin ein Morgenpoet. Wenn alle schlafen, gehe ich an den PC und schreibe in aller Ruhe.« Dann schreibt er Verse wie: »Wer kann schon ohne Wunder leben? ist meine Frage. Hört gut zu, was ich euch sage. Nur mit einem Wunder erreicht man das, was man will, findet das Ziel.« Danach arbeitet Ilja in der Werkstatt. Da er aber körperlich stark eingeschränkt ist, empfindet er diese Tätigkeit als öde. Was er hingegen mag, ist Feste organisieren und Reden schreiben. Mittlerweile arbeitet er auch für die Werkstattzeitung »W.I.R.«. Für sie führt er Interviews, nimmt sie mit seinem Computer auf oder stellt neue Mitarbeiter vor.

Familie Ilja Averbukh lebt noch bei seinen Eltern. Die Großeltern wohnen nur wenige Straßen entfernt. Wenn Ilja nach der Arbeit am Nachmittag nach Hause kommt, ist Familienprogramm angesagt. Er spielt leidenschaftlich gern Monopoly, plaudert mit seinen Eltern und liebt das gemeinsame Essen mit der ganzen Familie. Kulinarisch bevorzugt er die italienische und spanische Küche.

Wenn die Familie mal nicht Schlossstraße und Wasserwerk verkauft oder Bilder »fälscht«, wie sie das Nachmalen berühmter Werke von Monet, Hundertwasser oder anderen Künstlern nennt, empfängt sie auch gern Besuch. So ist immer etwas los. Und außerdem braucht Ilja schließlich auch noch Zeit für seine Texte. Kürzlich hat er das russische Märchen Mäuschen übersetzt, ein Drehbuch dazu geschrieben und es schließlich mit Freunden zusammen aufgeführt. Regie führte er selbst – und alle waren begeistert dabei.

Neben Deutsch, Russisch und Ukrainisch spricht Ilja auch noch Englisch und Spanisch. »Wir waren oft in Spanien, und mir hat die Sprachmelodie so gut gefallen, da wollte ich sie lernen«, erklärt der 23-Jährige sein Interesse.

Wenn er am Wochenende viel oder einfach mehr freie Zeit hat, besucht er gern gemeinsam mit seinem Großvater den Park. »Mein Opa ist ein großer Naturliebhaber – und das hat er mir vererbt.« Er kennt viele Pflanzen mit Namen und weiß auch etliches über die Tiere zu erzählen. »Wobei mein Lieblingstier immer noch unser Kater ist«, sagt er und lacht.

Zwei Träume würde er gern unbedingt noch verwirklichen: Er möchte in einem Theater die Organisation und die Regie übernehmen. »Als Schauspieler bin ich nicht geeignet«, meint er selbstkritisch und realistisch. Der zweite Wunsch ist: »Ich möchte nicht mehr länger Single sein.« Seine Freundin sollte wie er Literatur mögen, romantisch und sensibel sein, wünscht er sich.

Berlin

Für Sichtbarkeit

Wenzel Michalski wird Geschäftsführer des Freundeskreises Yad Vashem. Eine Begegnung

von Christine Schmitt  30.04.2025

Hanau

Das zarte Bäumchen, fest verwurzelt

Vor 20 Jahren gründete sich die jüdische Gemeinde – zum Jubiläum wurde eine neue Torarolle eingebracht

von Emil Kermann  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

 30.04.2025

KZ-Befreiungen

Schüler schreibt über einzige Überlebende einer jüdischen Familie

Der 18-jährige Luke Schaaf schreibt ein Buch über das Schicksal einer Jüdin aus seiner Heimatregion unter dem NS-Terrorregime. Der Schüler will zeigen, »was Hass und Hetze anrichten können«

von Stefanie Walter  29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025

Berlin

Bebelplatz wird wieder zum »Platz der Hamas-Geiseln«

Das Gedenkprojekt »Platz der Hamas-Geiseln« soll laut DIG die Erinnerung an die 40 in Geiselhaft getöteten Israelis und an die 59 noch verschleppten Geiseln wachhalten

 28.04.2025

Berlin

Jüdische Gemeinde erinnert an Warschauer Ghetto-Aufstand

Zum Abschluss der Namenslesung vor dem Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße ist für den Abend ein Gedenken mit Totengebet und Kranzniederlegung geplant

 28.04.2025

Düsseldorf

Erinnerungen auf der Theaterbühne

»Blindekuh mit dem Tod« am Schauspielhaus stellt auch das Schicksal des Zeitzeugen Herbert Rubinstein vor

von Annette Kanis  27.04.2025

Hanau

Jüdische Gemeinde feiert Jubiläum

»Im Grunde genommen ist es mit das Größte und Schönste, was eine Gemeinde machen kann: eine neue Torarolle nach Hause zu bringen«, sagt Gemeinde-Geschäftsführer Oliver Dainow

 25.04.2025